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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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lege eine Karte hin, er nimmt den ganzen Stoß. Keinen Rüffel, nicht eine
einzige Ohrfeige, noch nicht einmal Mißbilligung auf seinem Gesicht, hinter
seiner Metallbrille, in seinen schmutzigen Augen.
    Auf meinem Bett ausgestreckt
betrachtete ich die weiße Decke, die Vorhänge, die ich nicht zugezogen hatte,
aus Angst, mich eingesperrt zu fühlen. Es war idiotisch, aber schon allein der
Gedanke, sie zu schließen und ganz im Dunkeln zu liegen, versetzte mich in
Panik. Im Dunkeln konnte er mich überrumpeln.
    Ich schaute auf die Sterne, den Himmel,
dem ich nicht mehr vertraute. Sie waren wundervoll, die Sterne, schön und so
leuchtend, daß ich trotz allem von einem besseren Leben träumte. Mein Vater
verschwand, ich weiß nicht wie, und das Leben wurde phantastisch. Aber das
hielt nicht lange an. Die Hoffnung in meinem Inneren schwand, und die
Verzweiflung kam wieder hoch, diese fürchterliche Verzweiflung, die einen
quält, quält und nochmals quält bis zum Tode.
    Der Himmel war schwarz, düster. Er
mußte sich wohl oder übel da irgendwo verstecken, dieser liebe Gott, der sich
einen Dreck scherte um Gören wie mich, kleine Dummchen, die in blöden,
vergessenen Registern eingetragen waren. Ich hatte den Eindruck, daß Ihr Gott,
den Sie mir in den Kopf gesetzt haben, Sie, die »Eltern«, die Erwachsenen, nur
Leuten half, die ihm etwas zu bieten hatten. Ich war ein Nichts, ich konnte nichts
bieten. Ich war nur Nathalie, ein geschlagenes und von seinem Vater
vergewaltigtes Mädchen.
    Da konnten die Sterne noch so leuchten,
der Himmel blieb schwarz und düster.
    Ein Messer, eine Klinge, die aufblitzt.
Ich bin fasziniert davon, kann mich an diesem scharfen, blinkenden Eisenstück
nicht sattsehen.
    Ich stehe hinter dem Ladentisch, beim
Käse- und Wurstregal. Ich helfe Mama. Ich mache sauber. Ich mache gerne sauber.
Eine ganze Stunde verbringe ich damit, mit einem Eimer und einem Schwamm die
Messer abzuwaschen. Ich möchte, daß die Klingen so strahlend wie möglich
blitzen. Ich tauche sie in heißes Wasser, und dann wische ich sie vorsichtig
ab. Ein Messer ist der schönste und reizvollste Gegenstand auf Erden. Ich bin
von Messern hingerissen. Mein Lieblingsmesser ist das größte im Laden. Ich
bringe es zum Blinken wie ein Schmuckstück. Ich kann mich nicht mehr von ihm
trennen. Ich säubere die Spitze. Das verleiht ihr eine ungeheuere Macht. Die
Schönheit dieser Klinge, die ins Unendliche zielt... Es ist die fleckenlose
Unberührtheit, die fleckenlose Schönheit.
    Bei den Messern hatte ich den Eindruck,
all meine Probleme zu vergessen, in einem Meer aus Zauber und Liebenswürdigkeit
zu schwimmen, einem Märchen, in dem es um Messer ging. Hochgestimmt, glücklich,
den Kopf ohne quälerische Gedanken. Ich hätte mir diesen glücklichen Augenblick
nicht nehmen lassen. Störte man mich, endete er abrupt. Blitzschnell sah ich
vor meinen Augen endlose Bilder mit meinem Vater und mir vorüberziehen. Das
Dunkel kam wieder, und es war grauenhaft. Ich war kein Opfer mehr, sondern
schuldig. Ich empfand Ekel vor mir selbst, weil ich seine Zumutungen über mich
ergehen ließ. Ich wußte, daß er mich gezwungen hatte, doch das halt nicht. Ich
war schuldig. Hitzewellen stiegen in mir hoch, in meinem Inneren explodierte
ich.
    Alles war verwandelt. Alles um mich
herum war anders, die Leute waren merkwürdig, alle wollten mich angreifen, ich
fühlte mich von allen Seiten bedroht. Ich brachte es nicht mehr fertig zu
denken, ich konnte nur noch fliehen oder mich herumstreiten. Doch wohin
fliehen? Ich hatte den Eindruck, daß diese verdammten Bilder schneller als ich
liefen, daß die Leute mich nicht so ohne weiteres losließen. Ich wollte vor
Bildern und Menschen davonrennen, die es nicht gab.
    In einem solchen Moment verlor ich den
Kopf angesichts meiner Messerklinge. Und dann ließ meine Erregung nach, und Wut
überschwemmte mich. Und auch wenn ich verrückt war, ich würde diesen Krieg
gewinnen! In wenigen Sekunden drehte ich das Messer um. Es war kein schöner
spitzer Gegenstand mehr, es war eine Waffe. Ich brauchte sie, mir wurde warm
ums Herz, wenn ich den dunklen Holzgriff in meine Hände nahm, als würde ich
mich im stillen darauf vorbereiten, jemanden zu töten. Das war kein Traum, das
war Wirklichkeit. Ich wollte all diese Bilder töten, die mich schmerzten. Ich
wollte ihn töten, diesen Vater, der sich erdreistete, sich Vater zu nennen oder
Mann, oder Mensch, oder selbst Tier. Mit diesem Messer wollte ich ihm aus der
Nähe

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