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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Tochter, verstehst du... Da war ein Mädchen, die mit ihrem Vater
schlief und sagte, sie wäre glücklich. Mich hat das schockiert. Solche Dinge
sind ekelhaft...«
    »Wieviel kostet der Gasanzünder?«
    »Sie wirkte jung... Ich weiß nicht
mehr, wie alt sie war... Aber es gab noch andere, die nicht damit einverstanden
waren, das kannst du dir denken. Die armen Kinder... Würdest du darüber
sprechen?«
    »Wie darüber... über was?«
    »Na, wenn dir so etwas passieren würde,
würdest du’s sagen?«
    Ich muß irgend etwas antworten. Aber
ich habe zu große Angst. Ich weiß nicht mehr was tun. Sag ich’s? Wenn ich es
sage, wird sie mit meiner Mutter darüber sprechen.
    »Nathalie, antworte mir. Weißt du, in
der Sendung hat ein Mädchen gesagt, daß sie darüber nie hätte sprechen können,
wenn nicht jemand entdeckt hätte, was ihr Vater machte. Und du? Was würdest du
an ihrer Stelle tun?«
    »Keine Ahnung. Warum fragen Sie mich
das?«
    »Nur so. Aus Neugierde. Es interessiert
mich. Würdest du’s zum Beispiel deiner Mutter sagen? Oder mir?«
    »Aber warum wollen Sie das wissen?«
    »Weil ich es schrecklich finde, daß die
Mädchen, denen so etwas passiert, nichts sagen. Ich meine, man kann mit den
anderen darüber sprechen; der Moderator sagte, daß die Leute es nicht von sich
aus erahnen können. Meistens wirken die Männer, die das tun, ganz normal,
niemand hat die leiseste Vermutung. Und da die Kinder nicht den Mund aufmachen...
Außer beispielsweise, wenn sie geschlagen werden und die Lehrer es in der
Schule sehen; dann wird nachgeforscht, man verständigt die Polizei, die
Fürsorge, man nimmt das Kind seinen Eltern weg. Das ist normal. Dieses Mädchen
hat mich schockiert, ich verstehe nicht, wie man sagen kann: Das ist normal,
und ich schlafe mit meinem Vater und bin glücklich. Was meinst du?«
    Sie hört nicht auf, zu reden. Sie
erzählt lang und breit und in aller Ausführlichkeit von der Sendung. Sie wartet
darauf, daß ich zusammenbreche. Ganz gewiß. Aber ich kann ihr doch nicht sagen...
Ich will nicht... Halt’s Maul, Nathalie! Schweig still! Wenn du ein Wort sagst,
gibt’s einen Skandal. Mama. Nicht Mama. Vor allem nicht sie. Scheiße, sie
brächte es fertig, sich umzubringen, wenn sie das erfahren würde.
    »Was denkst du darüber? Weißt du, mir
kannst du alles sagen. Du kannst mir vertrauen.«
    »Wenn mir das passierte, würde ich
nichts sagen.«
    Wenn ich nur könnte! Mein Gott, wenn
ich nur könnte! Sie ist nett, sie ist selbstsicher, sie hat vor nichts Angst.
Sie würde mich retten.
    »Und warum würdest du nichts sagen?«
    Weil sie das Geheimnis nicht für sich
behalten würde. Weil ihr Verdacht nur zu begründet ist, weil sie mir in die
Augen schaut, als wollte sie mich dazu bringen, endlich den Mund aufzutun.
    »Ich würde nichts sagen, weil ich
nichts zu sagen habe.«
    »Bist du sicher?«
    An diesem Tag war ich nahe dran. Es war
das erste Mal, daß man mich ohne Umschweife mit einer direkten Frage
konfrontierte. Inzest. Sie hatten sogar eine Sendung darüber gemacht. Also
hatten sie von mir gesprochen. Und ich hatte sie nicht gesehen. Sie hatten ohne
mich von mir gesprochen. Ich habe in einer Enzyklopädie nachgeschaut. Dort
stand: »Bei den meisten Völkern des Altertums wurde der Inzest als Verbrechen
angesehen. Als etwas Abscheuliches und Unheilvolles. Freud zufolge sollen die
ersten sexuellen Bekundungen in der Kindheit immer inzestuösen Charakter
haben.«
    Ich habe nicht viel verstanden. Das
klang ein bißchen wie die Argumentation meines Vaters: »Die Gesellschaft will
das nicht, sie hat Unrecht... Es ist normal, daß ein Vater seine Tochter damit
vertraut macht«, usw.
    Ich war nicht mehr schwanger. Ich war
es nie gewesen. Ein bißchen rotes Blut hatte die Gefahr fortgespült.
    Aber meine Mutter schaute mich seit
einigen Tagen voller Sorge an. Die Nachbarin hatte nicht geschwiegen. Sie hatte
meine Mutter davon überzeugt, daß ich mich mit einem Problem herumschlug. Das
war nichts Besonderes. Alle sagten das. Ein Problem, aber welches?
    Mama trocknet das Frühstücksgeschirr
ab, sie hat Ringe unter den Augen, ich auch. Sie kann nicht mehr, ich auch
nicht.
    »Ich habe einen Termin mit dieser
Ärztin ausgemacht, von der Anne-Marie gesprochen hat.«
    »Mit welcher Ärztin? Ich bin nicht
krank.«
    »Es ist eine Psychologin. Eine Ärztin
für den Kopf, wenn du lieber willst.«
    »Ich geh’ nicht hin.«
    »Nathalie... Ich sehe doch, daß im
Augenblick mit dir etwas nicht stimmt; hast

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