Ich war zwölf...
du deine Noten gesehen? Du sprichst
mit mir, als wäre ich eine Feindin, du streunst auf der Straße herum, du lernst
nicht mehr, man kann dir nichts sagen. Ich bitte dich, tu’s, nur einmal, du
wirst ja dann sehen.«
»Ist recht, Mama. Schon gut.«
»Wenn du ein Problem hast, wird sie dir
helfen.«
»Ist gut.«
Sie seufzt, weil ich beim Antworten mit
den Achseln gezuckt habe. Mein Problem, sie hat es in der Hand. Es ist die
Kaffeetasse meines Vaters. Ins Abwaschwasser getaucht, unter dem heißen
Wasserstrahl abgespült, abgetrocknet und in den Schrank gestellt. Die Nachbarin
von gegenüber hat es erraten oder beinahe. Sie nicht. Nicht meine Mutter.
Obwohl sie ihn nicht mehr liebt; sie hat Angst vor ihm, wie ich. Hier ist er
der Herr. Wir ducken uns, wir hören auf das, was er sagt, wir gehorchen.
Angeblich schafft er das Geld heran. Sein blödes Geld. Für’s Essen gibt er
jedenfalls nicht viel ab. Sein Geld verbraucht er vor allem selbst. Und sie
sagt nichts. Mit Mühe und Not kommt sie mit ihrem Haushalt über die Runden, und
er fährt einen Mercedes, er trinkt Champagner und kauft sich Drogen. Auch sie
hat ein Problem. Vor uns Kindern spricht sie nicht darüber. Aber ich würde
gerne begreifen, warum sie immer vor allen anderen ins Bett geht, warum sie all
diese Tabletten nimmt, warum sie traurig ist, warum sie nicht mit uns auf und
davongeht. Wir Kinder sind immer der Vorwand: Man bleibt zusammen wegen der
Kinder. Vielleicht denkt sie wie ich. Abhauen, aber wohin gehen? Wo wohnen?
Wovon leben?
Meine Schwester und mein kleiner Bruder
lieben ihren Papa. Es gibt also eine Menge Hindernisse, die unüberwindlich zu
sein scheinen. Jedenfalls sagt sie immer: »Er ist ein schlechter Ehemann, aber
ein guter Vater.« Und sie glaubt es, weil er streng ist. Weil er nicht will,
daß man mit jedem X-Beliebigen spielt und auf der Straße herumstreunt oder daß
man nach neun Uhr abends fernsieht. Daß man sich im Kino Filme anschaut. Ich
ausgenommen. Ich kann mich gerne in einer Bar betrinken, er schert sich nicht
im geringsten darum. Oder vielmehr, er hofft, daß ich — wenn es immer weiter
abwärts mit mir geht — endlich an seinen Schweinereien Gefallen finde. Das habe
ich begriffen, ich bin jetzt alt genug. Er will mich in die Gosse bringen,
dahin, wo er selbst ist. Da bin ich übrigens schon. Aber ich gehe nicht in der
Gosse zugrunde, ich nicht.
Ich hab’s satt bis oben hin. Was soll
ich ihr erzählen, der guten Frau?
Sie ist freundlich. Sie empfängt die
Leute in einem der Zimmer ihrer Kinder. Sie versucht, mir die Befangenheit zu
nehmen, aber es gelingt ihr nicht. Bei mir wäre da ein wenig mehr nötig. Guten
Tag. Auf Wiedersehen, Madame. Ich werde vielleicht wiederkommen.
Ich weiß nicht mehr, worüber wir
gesprochen haben. Wieder einmal von der Schule, der Pubertät. Ich habe an dem
Gespräch so gut wie nicht teilgenommen. Es wurde nicht konkret, sie war auf dem
Holzweg. Meine Lage ändert sich nicht, weil eine Fernsehsendung um zwanzig Uhr
dreißig einen Beitrag über den Inzest bringt. Man fragt einen Teenager von
fünfzehn Jahren nicht einfach so mir nichts dir nichts: »Schläft dein Vater mit
dir, hat er dich vergewaltigt?« Es ist schon viel, wenn man dich fragt:
»Schlägt er dich?«
Meine Mutter hat mich gefragt: »Na, was
war?« Und ich habe geantwortet: »Nichts.« Ich bin nicht wieder hingegangen. Und
aus gutem Grund.
Die Tür zum Büro wird ruckartig
geöffnet. Seit einer halben Stunde sitze ich hier und arbeite an den
Rechnungen. Er ist wieder einmal in einem ausgeflipptem Zustand. Er hat wohl
Joints geraucht...
»Du bist vollkommen übergeschnappt!
Unzurechnungsfähig! Was, zum Teufel, hast du bei diesem Quacksalber zu suchen?
Du hast wohl einen Vogel, was? Weißt du nicht, daß diese Sorte Typen eine Menge
Dinge über die Leute rausfinden?«
Er hat sich eben mit meiner Mutter
darüber gestritten. Sein Gesicht ist rot vor Wut. Er hat Angst. Er hat Angst um
sich. Angst, verraten zu werden. Wenn ich etwas gesagt hätte?
»Was hast du dieser alten Vettel
erzählt?«
»Na, nichts.«
»Mach’ dich nicht über mich lustig!
Worüber hat sie dir Fragen gestellt?«
»Über die Schule... lauter Quatsch...«
»Ich verbiete dir, da noch einmal
hinzugehen, verstanden? Du hast überhaupt kein Problem. Das einzige Problem,
das du im Augenblick hast, ist, daß ich dich dafür bestrafen werde. Ich werde
dir die Lust austreiben, da noch mal hinzugehen... du wirst schon sehen...«
Er nestelt seinen
Weitere Kostenlose Bücher