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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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lernen, so schwer ist das nicht. Sie müßte mit ihm schlafen, nicht ich.
    Heute schäme ich mich dafür, daß ich
meine Mutter beschuldigt habe. Ich wußte nicht... ich glaubte zu wissen. Aber
sie sprach nie von ihm. Sie schwieg. Bei den Quälereien, die sie von ihm
erdulden mußte, konnte sie sich nicht eine Sekunde lang vorstellen, daß ihre
älteste Tochter genauso ein Opfer wie sie selbst war. Ich war unwissend, Mama.
Verzeih mir. Das Leben ist dumm, blöd. Man hat nicht alle Zahlen zur Hand, um
die Gleichung zu kapieren. Und meine war in ihrer Art tatsächlich faul. Ich
glaubte, meine Mutter liebte mich nicht wirklich und interessiere sich nicht
mehr so für mich wie damals, als ich ein kleines Mädchen war. Als ich ein
anderes Leben führte.
    Er hat mich in sein Büro zitiert. Ich
bin aufs Schlimmste gefaßt.
    »Mir ist da etwas von einem gewissen
jungen Mann zu Ohren gekommen. Er wohnt im Viertel.«
    »Ja.«
    Ich versuche, in seinem Gesicht zu
lesen. Wie wirkt es? Heuchlerisch? Wird er den Gürtel holen?
    »Gefällt er dir?«
    »Ja.«
    Diesmal wird es etwas setzen.
    »Und wie heißt er?«
    Mir ist wurscht, ob er auf mich
eindrischt, ich habe so etwas wie eine Leuchte im Kopf. Einen strahlenden
Namen, den ich ihm ins Gesicht schleudern werde.
    »Bruno.«
    »Gut, gut.«
    Ich warte. Eigentlich müßte er
losschreien. Er müßte reagieren wie beim ersten Mal. Es ist Zeit für eine
kleine Prügelei.
    Nichts.
    »Du hast nichts dagegen?«
    »Nein, wieso? Das kann dir nur gut
tun.«
    Kein Wort von »verbieten!«. Er wirkt
sogar befriedigt.
    »Ist das alles, was du mir sagen
wolltest?«
    »Das ist alles.«
    Dieses kleine schlaue Lächeln. Ich habe
verstanden. Übrigens wußte ich es schon. Er hat seinen Deckmantel. Ganz gleich,
was mir jetzt geschieht — wenn ich mit einem anderen Mann schlafe, wird man ihn
nie behelligen. Wenn ich schwanger werde, dann von Bruno.
    Er ist zufrieden. Aber ich scher’ mich
einen Dreck darum.
    Auch ich war ein armes Naivchen. Wie
meine Mutter. In dem Augenblick hatte ich nicht verstanden, daß ich nicht frei
war, wie ich glaubte, weil es EINEN MANN in meinem Leben gab. Oder weil es
einen geben würde... Er sollte sich an mir schadlos halten, wieder und wieder
und zudem noch Bruno einspannen. Dieser Kerl hatte wirklich das Talent, alles
zu besudeln. Wie habe ich das nur ertragen? Wie nur? Noch heute weine ich
darüber, terrorisiert von dem Gedanken, daß ich all das ertragen habe, daß es
mir im Grunde ganz natürlich schien. Es fällt mir schwer, das zu begreifen und
niederzuschreiben. Sobald mich dieser Gedanke beschleicht, gehe ich fast daran
zugrunde.
    Diese Vorstellung stammt von den
anderen. Man hat mich so oft gefragt, warum. Warum bin ich nicht zur Polizei,
zu meiner Mutter, zu der Nachbarin an der Ecke, zu irgend jemandem gerannt, um
ihn anzuzeigen? Und ich hab’ dieses Warum satt. Ich werde Ihnen noch einmal
darauf antworten: Weil man nicht eine ganze Familie zerstört, weil es meine
Schuld wäre, wenn meine Mutter sich umbrächte, falls sie davon erfahren würde.
Weil es zu früh geschehen ist, in einem Alter, wo man nichts dagegen
unternehmen kann.
    Genau das ist dringend erforderlich:
Sofort etwas unternehmen, bei der ersten dreckigen Pfote, die sich auf dich
legt, losschreien.
    Ich spreche zu Dir, Mädchen, dem das
passieren wird. Hör mir gut zu, ich schreie so laut wie möglich, damit Du mich
verstehst. Mach Dich aus dem Staube! Wehr Dich! Augenblicklich!
    Danach ist es zu spät. Man hofft wie
ich, schnellstens erwachsen zu werden, um dem Diktator zu entkommen. Wartet,
bis die kleine Schwester und der kleine Bruder groß sind, damit es, wenn es
herauskommt, ohne allzu großen Schaden geschieht. Wartet, daß von anderer Seite
etwas passiert. Daß ein Junge kommt und Dich bei der Hand nimmt. Das dauert
lange. Entsetzlich lange. Weil Du außerdem die Männer haßt. Du mußt Dich
zwingen, sie zu ertragen. Es ist ihre Schuld, daß sie einen Penis haben. Einer
wie der andere.
    Also schau, daß Du weg kommst, wenn es
Dir zustößt, und schreie so laut du kannst. Erzähle alles dem erstbesten
Polizisten, der vorbeikommt, dem Hausarzt, dem Lehrer, Deinen Freundinnen, der
ganzen Welt, bis man Dir glaubt. Auch das wird schwer sein, aber so ist es
halt. Biete ihnen die Stirn. Man wird Dich für eine Rotzgöre halten, die
herumphantasiert, die Geschichten verbreitet, um sich interessant zu machen.
Man wird in Deinem Gehirn herumgraben und auch sonst noch überall, um Beweise
zu

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