Ich war zwölf...
Nutzen, außer für uns. Wir
nennen sie das Quadrat. Wir, das sind Bruno und ich. Er hat mich abgeholt, wir
haben uns auf dem Beton sitzend unterhalten und sind den ganzen Nachmittag
spazieren gegangen.
Er legt seinen Arm um meine Schultern,
und ich weiche unwillkürlich zurück.
»Was hast du?«
»Nichts.«
Außer daß ich es nicht ertrage, wenn
man mich berührt. So ist das. Wir sitzen auf dem Betonviereck, das Haus steht
vor uns. Das schöne Haus, auf Kredit gekauft. Es verändert mein Leben, dieses
Haus. Zum ersten Mal haben wir jeder ein Zimmer. Meines hat rosa Tapeten, ich
habe ein Bett aus hellem Holz mit einer Kommode, das ist mein Winkel, mein
Loch, ein Ort, wohin »er« nicht kommt. Hier zünde ich abends meine Kerze an,
hier träume ich, hier schreibe ich mein Tagebuch, hier bete ich zum lieben
Gott, der mir keine Antwort gibt.
Bruno beugt sich über mich und küßt
mich. Das ist mein erster Kuß. Seine Lippen ganz nah an meinen, wie ein
Schmetterling. Noch nie habe ich ein Gesicht so dicht vor meinem gesehen.
»Warum küßt du mich so?«
»Wie so?«
»Weiß nicht, bis morgen also?«
»Salut. Bis morgen.«
Ich habe mich küssen lassen, um ihm
einen Gefallen zu tun, und ich habe etwas X-Beliebiegs gesagt, einfach, um
etwas zu sagen. Er geht fort, und ich laufe in mein Zimmer, ich springe auf
mein Bett und ritze das Datum in den Bettpfosten aus hellem Holz: »13. Mai
1986.« Mein erster wirklich glücklicher Tag seit Jahren, seit meiner Kindheit —
und dann plötzlich Mißtrauen. Und wenn er mich gar nicht ernst nimmt? Wenn all
das ein Ende nähme?
Freitag, Schule. Es regnet in Strömen.
Ich hasse die Freitage und die Dienstage. Dienstags schließt mein Vater mich
wegen der Rechnungen bei sich ein, weil mittwochs keine Schule ist. Freitags
auch, weil ich auch samstags keine Schule habe.
Als es dunkel wird, erfinde ich eine
Ausrede:
»Kann ich mit Sophie ausgehen, Mama?«
»Wohin? Es schüttet ja buchstäblich.«
»Eine Viertelstunde, wir machen eine
Runde.«
»Nicht länger, ja? Dein Vater wird nach
Hause kommen.«
Ich scher’ mich einen Dreck um diesen
Kerl. Ich renne mit meiner Schwester durch den Regen, auf der Suche nach Bruno.
Das Betonquadrat ist leer, die Regentropfen zerplatzen in häßlichen Pfützen.
Die Straße ist leer, das Viertel leer und ich auch. Kein Bruno. Meine Schwester
ist genauso aufgeregt wie ich. Genauso enttäuscht.
Und dann das Geräusch eines Wagens,
Sophie knufft mich in die Seiten:
»Du! Das ist er, sag’ ich dir...«
Ich sehe nichts, ich bin durchweicht.
Aber nein, das ist er nicht. Es ist nur irgendein Auto und nur ein gottverdammter
Freitag. Ich werde ihn nicht sehen. Und der andere wird nach Hause kommen.
»Ich sag’ dir, das ist er, schau doch,
er winkt dir.«
Er ist es.
»Jetzt schau doch, er winkt dir, er
grüßt dich...«
»Laß mich in Ruhe...«
»Aber was hast du denn... Wink ihm zurück...«
»Laß mich in Ruh’, gehen wir heim.«
»Du hast sie nicht mehr alle... Er hat
gesehen, daß du nicht reagiert hast...«
»Und wenn schon, um so besser.«
Warum habe ich das getan? Ich lief im
strömenden Regen hinaus, in der Hoffnung, eine Minute lang bei ihm zu sein, er
kommt, und ich renne wortlos davon. Ich hab’ sie nicht mehr alle. Es stimmt.
Wir gehen nach Hause. Ich glaube nicht daran, ich glaube einfach nicht daran.
Irgendein Kerl, der mich nicht ernst nimmt. Ein harmloser Flirt im
Vorübergehen, und er wird sich aus dem Staube machen. Vergrab deinen Kopf im
Kopfkissen, Nathalie. Für dich gibt es solche Geschichten nicht.
Ich schlafe nicht. Die Nacht ist lang.
Die Kerze flackert. Trotzdem habe ich heute abend Glück gehabt. Es gab wirklich
nur Rechnungen. Nichts als Rechnungen. Keine Joints, kein Licht, das in den
Augen brennt, keine Fotos, nur das Geräusch der Schreibmaschine. Und dann mein
Bett für mich allein. Ich habe Angst. Ich habe kein Vertrauen. Er muß mich für
eine Idiotin halten. Ich hätte stehenbleiben, mit ihm reden müssen. Statt
dessen bin ich Hals über Kopf davongerannt wie eine Bekloppte. Ich will ihn und
fliehe vor ihm.
Samstag, die Sonne scheint. Ich hänge
Wäsche auf dem Balkon auf, ich höre ein Geräusch auf dem Quadrat. Ich renne
hinaus.
Er ist da. Groß, fest, mit seinen
dunkelbraunen Augen. Er geht auf mich zu, pflanzt sich vor mir auf:
»Hältst du mich für blöd? Ich lasse
mich nicht auf den Arm nehmen.«
»Was habe ich getan?«
Lügnerin. Ich lüge, als wäre ich dafür
geboren. Die ganze
Weitere Kostenlose Bücher