Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
haben. Weil sie einen Beweis brauchen. Biete ihnen die Stirn. Sie werden ihn
früher oder später haben. Du bist weder verrückt noch dreckig, noch eine
Lügnerin. Du sagst die Wahrheit. Sage sie sofort. Ganz gleich, ob es der
»Papa«, der Onkel, der Bruder, der Nachbar ist... Laß Dich nicht ein einziges
Mal anrühren, ohne etwas zu sagen, sonst bist Du für lange Zeit verloren. Wie
ich.
    Bruno fährt für drei Wochen mit seinen
Eltern weg. Drei Wochen sind eine Ewigkeit.
    Heute abend gehen wir tanzen. Aber
heute nachmittag will ich ihn für mich.
    Das Zimmer. Die zugezogenen Vorhänge.
Die Musik von Cabrel. Ich mag ihn und seine Musik. Er ist meine Hoffnung. Ich
kann besser widerstehen, wenn ich sie höre. Besser weinen. Mir geht’s dann
besser.
    Bruno und ich. Ich werde es Bruno
zuliebe tun. Ich muß mit Bruno schlafen. Ich kenne die Gesten, den Rest jedoch
nicht.
     
    Sie sagte, ich bin schon zu lange
gelaufen,
    Mein Herz ist schwer von Geheimnissen,
    Tu schwer von der Not.
    Sie sagte, ich mach’ nicht weiter,
    Was mich erwartet, hab’ ich schon
erlebt,
    Es lohnt nicht mehr.
    Sie sagte, leben ist grausam,
    Sie glaubte nicht mehr an die Sonne,
    Noch an die Stille der Kirchen,
    Sogar sein Lächeln machte ihr Angst,
    Auf dem Grund ihres Herzens herrschte
Winter.
    Nie war der Wind kälter,
    Die Nacht kälter als an diesem Abend,
    Am Abend als sie zwanzig wurde,
    Am Abend, an dem in ihren Augen
    Das Feuer erlosch In einem hellen
Lichtstrahl.
    Sie ist gewiß in den Himmel gekommmen.
    Sie leuchtet an der Seite der Sonne
    Wie die neuen Kirchen
    Und wenn ich heute abend weine,
    Dann wegen der Kälte in meinem Herzen.
     
    »Warum hast du’s nicht gesagt?«
    Die Schallplatte ist von allein
stehengeblieben. Auf meiner Bettkante sitzend wollte er wissen, warum und durch
wen ich nicht mehr Jungfrau war.
    »Warum hast du’s nicht gesagt?«
    Ich habe mich vor dieser Frage
gefürchtet. Wie eine dumme Gans hatte ich gehofft, man würde es nicht merken.
    Ich habe eine Geschichte erfunden. Es
war Franck. Armer Franck, ich hatte ihm schon so vieles unterstellt, und nun
erfand ich noch etwas hinzu.
    »Ich wollte nicht, er hat mich
gezwungen. Er war siebzehn und ich kaum zwölfeinhalb.«
    »Wenn dieser Kerl mir über den Weg
läuft, schlag’ ich ihn zusammen.«
    Ich erfand also die Lüge, Franck hätte
mich vergewaltigt, als ich zwölf Jahre alt war. Er, ein Großer, ich dagegen
noch ein Kind. Wieder log ich oder vielmehr legte ich mir die Wahrheit auf
meine Art zurecht, als könne es für mich keine Wahrheit mehr geben. Ich mußte
ständig etwas erfinden, mir Vorwände, Erklärungen, Gründe ausdenken, um die
Wirklichkeit zu vertuschen.
    Auch die Liebe war Lüge. Schrecken.
Einen Augenblick lang hatte ich gegen die Versuchung ankämpfen müssen
auszureißen. Für einige Sekunden ersetzte ein anderes Gesicht das von Bruno.
Ein wahnsinniges Entsetzen, eine Art Doppelgesicht.
    Es war mein erstes Mal. Mein wirkliches
erstes Mal und trotzdem mußte ich mir verzeihen lassen. Er war enttäuscht, mein
Liebster. Er wäre gern der erste gewesen. Wenn er gewußt hätte...
    Und trotzdem hatte ich gewollt, daß er
der erste ist. Das wird man mir nicht nehmen. Diesmal war ich einverstanden.
Ich selbst habe die Vorhänge zugezogen, habe die Schallplatte auf den
Plattenteller gelegt. Ich selbst habe mich auf mein Bett gelegt mit dem Mann,
den ich mir ausgesucht hatte. Um diesen Augenblick nicht zu verpatzen, hatte
ich das Recht zu lügen, mich bemitleiden zu lassen. Er glaubte mir, er würde
mich von meiner Qual erlösen.
    Und vor allem hatte ich einen
ungeheuren Sieg über mich selbst davongetragen. Mein Körper hatte einen anderen
Körper ausgehalten. Es war mir gelungen, Zärtlichkeit zu erhaschen, ich würde
nie mehr davon lassen. Von nun an war war sie mein einziger Rettungsring, wurde
zu meiner Art zu leben. Zärtlichkeit. Eine ganz besondere Liebe. Mit ihren
Grenzen, ihren Ängsten und ihren Alpträumen, die mich ganz plötzlich
zurückweichen, kneifen ließen. Ich sah meinen Vater wie ein Gespenst
auftauchen. Ein Gefühl, losheulen zu müssen. Bruno begriff natürlich nichts.
Wenn ich mich dann wieder beruhigt hatte, war es zum hundertsten Mal die Schuld
von Franck gewesen, der als Vergewaltiger meiner Kindheit herhalten mußte. Er
diente mir als Vorwand für plötzliche Verstörtheit. Für Zitteranfälle,
Verweigerungen. Wegen ihm konnte ich mich nicht nackt zeigen. Wegen ihm schlief
ich angezogen. Wegen ihm raste ich unter die

Weitere Kostenlose Bücher