Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
Aber vor ihr, seiner Frau, meiner
Mutter! Meinem Richter. Ich war leichenblaß. Chantal hat mir Alkohol
verabreicht, um mir Mut zu machen. Mir schwirrte der Kopf. Ich dachte nur an
den Tod. Nichts war sauberer als der Tod meines Vaters oder mein eigener. Bis
dahin hatte ich mich damit begnügt, davon zu träumen. Die Wirklichkeit holte
mich im Galopp ein. Die einzig mögliche Ruhe bot der Tod, und ich lebte...
    Der Zug hatte Verspätung. Der Alkohol
hatte mich verwirrt. Ich hatte eine Handvoll Tabletten geschluckt, Unmengen
Glimmstengel geraucht. Ich hieß nicht mehr Nathalie. Ich war eine andere. Die
andere frivole, beschmutzte, kaputte. Daß man mir das Geheimnis entrissen
hatte, bedeutete noch keine Befreiung, Erleichterung für mich. Es meiner Mutter
zu sagen hieß auch, es allen zu sagen. Ich war in einer Sackgasse. Es gab in
mir zwei Nathalies, und während ich auf dem Bahnsteig auf meine Mutter wartete,
fühlte ich mich alt.
    Der Zug ist eingefahren. Mama lächelte.
Chantal sprach mit ihr. Sie bereitete sie darauf vor. Mama glaubte, den
Kindern, den anderen, den Kleinen sei etwas Schlimmes zugestoßen. Dann hat sie
»zugehört«. Chantal sprach von mir. Ich weiß, daß sie so etwas sagte wie:
    »Er hat deine Tochter Nathalie fünf
Jahre lang mißbraucht.«
    Ich verstand Wortfetzen. »Das ist
unmöglich! Der Schuft! Das Dreckschwein... Dafür wird er bezahlen... Er wird
krepieren, dieses Scheusal.«
    Sie ist durchgedreht. Und ich, zwei
Meter von ihr entfernt, brachte kein Wort hervor. Ich weinte.
    Lange danach gelang es mir zu sagen:
    »Wenn du willst, Mama, kann ich gehen.«
    Sie machte einen Satz auf mich zu,
drückte mich an sich: »Du bleibst bei mir. Wir gehören zusammen. Das wird er
büßen.«
    Später wollte sie Näheres wissen. Aber
das konnte ich nicht. Sie war zu verstört. Ich begnügte mich mit dem
Wesentlichen: Es hat angefangen, als ich zwölfeinhalb Jahre alt war, es hat
aufgehört, als wir fortgegangen sind... Er hat mich geschlagen. Ich durfte
nicht darüber sprechen. Er weckte mich nachts, du schliefst. Deswegen das
Rechnungen schreiben.
    Und Bruno ist gekommen, auf Urlaub. Der
Himmel mußte auch über ihm zusammenstürzen. Ich mußte mich von allem zur
gleichen Zeit befreien. Vielleicht würde er endlich verstehen, warum ich
weinte, ihm auswich, wenn er mit mir schlafen wollte. Wenn er mich liebte...
    »Versprich mir, daß du mich ausreden
läßt, ohne mich zu unterbrechen.«
    Er hat es nicht wirklich begriffen. Er
hat es erst später verstanden. Vor dem Gericht, das meinen Vater richten
sollte. Erst da hat er alles entdeckt, die fürchterlichen Einzelheiten, die ich
noch niemandem erzählt hatte, vor allem nicht ihm. Ihm, den ich zuweilen
zurückstieß, wenn das Gesicht meines Vaters sich vor seines schob.
    Ihm, auf den die Wahl meiner Liebe
gefallen war. Ihm, der mich ohne sein Wissen mit meinem Vater geteilt hatte.
    Er hat mir an diesem Abend zugehört,
fast ohne mich zu unterbrechen, ernst, benommen, ohne zu reagieren. Er hat mich
nicht zurückgestoßen, aber ich sah wohl, daß es ihm schwerfiel, mir zu glauben.
Dazu hätte es der Einzelheiten bedurft, über die ich noch nicht sprechen konnte
wie heute.
    Die Einzelheiten. Alle Einzelheiten.
Alle, an die ich mich erinnere, alle, die den Schleier der Kindheit durchstoßen
haben. Nicht die Pubertät. Mit ungefähr vierzehn Jahren ist mir in aller
Deutlichkeit das Furchtbare meiner Situation bewußt geworden. Davor liegt eine
Art Alptraum, wo es nur Ungeheuer, Waschmaschinen, den Gürtel, den braunen
Bademantel, die schrecklichen Schläge gibt. Fotografien, unveränderliche
Bilder, Worte, die mich vor Angst erstarren lassen.
    Ich erklärte Bruno, warum mein Vater
zuerst seine Erlaubnis zu unserer Verlobung zurückgezogen hatte, im vorigen
Jahr, obwohl alles vorbereitet war, die Blumen, der Champagner, die
Einladungen. Aus heiterem Himmel hat er eine Show abgezogen: Ich wäre zu jung,
wir sollten uns bis zum nächsten Jahr gedulden...
    »Er hatte Angst. Um sich selbst,
verstehst du. Ich war dabei, ihm zu entkommen, und wenn ich ihm entwischte,
bestand die Gefahr, ich könnte es irgendwann erzählen. Du dientest ihm als
Vorwand. Wäre ich schwanger geworden, wärst du es gewesen... Deswegen hat er
dich so schnell im Haus toleriert und sogar in meinem Zimmer...«
    Armer Bruno, er hatte geglaubt, einen
netten, jungen, coolen Schwiegervater in spe zu haben...
    Im Oktober haben wir uns getrennt. Ich
habe monatelang ohne ihn gelebt... ohne Liebe,

Weitere Kostenlose Bücher