Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
Nebenhörer ans
Ohr schallt. Die Drohung hallt in meinem Kopf wieder. Er hat das letzte
Argument in die Waagschale geworfen: Mama alles zu sagen. Vor mir. Ihr auf
seine Weise all die Jahre der Folter zu erzählen. Mich in Mamas Augen zu einer
kleinen Nutte zu degradieren. Er hofft, daß sie das nicht ertragen wird. Daß
sie aus Scham, aus Kummer darüber sterben wird.
    Mir verschwimmt alles vor den Augen.
Ich verliere vollständig die Fassung. Das Messer. Ihn umbringen... er soll
krepieren. Solange er am Leben ist, wird er mir schaden, ganz gleich ob er
fünfhundert oder zehntausend Kilometer entfernt ist.
    »Nathalie? Was ist los? Was hat er
sagen wollen? Verstehst du das? Was bedeutet dieser dumme Satz?«
    Ich halte meinen Kopf mit beiden Händen
fest, damit er nicht zerspringt, damit ich nachdenken kann. Ich weine, ohne zu
weinen, nichts kommt heraus, ich ersticke. Unmöglich, den Mund zu öffnen, um
ein Wort zu sagen.
    Ich muß furchtbar ausgesehen haben.
Unter Schmerzen bin ich von der Lüge entbunden worden. Mein ganzer Körper hat
weh getan. Ich habe mich schließlich zwischen fürchterlichen Atembeklemmungen
die Worte herauspressen hören:
    »Ich kann das nicht mehr für mich
behalten.«
    »Was? Wovon sprichst du?«
    »Vor fünf Jahren ist etwas Schlimmes
passiert.«
    »Sag es, Nathalie. Rede... Wir sind ganz
allein... Rede... ich flehe dich an, sag mir alles... sag es...«
    »Er hat mich...«
    »Ruhig... ruhig... hör’ auf zu weinen,
atme tief durch... Rede, ich bitte dich, dir wird dann leichter ums Herz sein...
vertrau mir...«
    »Er hat mich vergewaltigt.«
    Es war ausgesprochen. Es war
ausgesprochen. Ich hatte endlich geredet. Ich hatte die Worte vor jemandem
ausgesprochen. Und die Erde bebte nicht unter meinen Füßen, der Himmel stürzte
nicht über mir ein. Es gab nur ein freundliches Gesicht, versteinert vor Bestürzung.
    Ich habe alles erzählt. Die fünf Jahre
Inzest. Es ging ganz schnell. Das läßt sich in einem Satz zusammenfassen: »Er
hat damit angefangen, als ich zwölfeinhalb war, es hat erst aufgehört, als wir
fortgegangen sind.«
    »Weiß deine Mutter Bescheid?«
    »Nein. Sie darf es nicht wissen. Ich
werde diesen Dreckskerl anrufen, ich werde tun, was er will, aber sie darf es
nicht wissen.«
    »Du mußt es ihr sagen, Nathalie...«
    »Nein!«
    Ich habe gebrüllt. Ich war schmutzig,
ich war eine Nutte, eine Hure. Ich wollte nicht, daß es meiner eigenen Mutter
unterbreitet wurde. Ich wollte nicht das Bild zerstören, das sie von mir hatte.
Das ging über meine Kräfte. Aber ich konnte nicht mehr. Weinen, mich
zusammenrollen, mich verstecken, nützte nichts mehr. Ich hatte jahrelang geschwiegen,
umsonst gekämpft, es war ihm wie eine ekelhafte Spinne von ihrem tiefen Loch
aus gelungen, mich zum Reden zu zwingen. Warum? Was wollte er? Daß ich
zurückkomme? Oder einfach Schaden anrichten? Nein, er hatte Angst, ich könnte
ihn anzeigen. Und er setzte auf meine frühere Zuverlässigkeit. Und auf die
Zuverlässigkeit, mit der Mama sterben würde, wenn sie davon erführe. Deshalb
hatte ich geschwiegen und auch, um in den Augen meiner Mutter und der anderen
nicht wie die dreckige Nathalie zu erscheinen. Jetzt war es zu Ende, ich hatte
geredet, ich konnte nicht auf halbem Wege stehenbleiben.
    Ich verdanke meine Erlösung dieser
jungen Frau. Ihrem Feingefühl, ihrem Verständnis.
    Ich gebrauche das Wort Erlösung. Es ist
nicht angemessen. Denn es war eine Art Tod. Reden hat mir Erleichterung
verschafft, das stimmt. Aber nur von der Lüge. Nur von der alltäglichen Lüge,
verstehen Sie? Nicht von allem übrigen. Nicht von ihm. Von ihm werde ich nie
erlöst werden, niemals. Ich träume davon, ihn zu töten, um erlöst zu werden,
aber selbst wenn er tot ist, wird er mich noch beschmutzen.
    Chantal hat verhindert, daß ich mich
erpressen ließ, sie hat für mich die Entscheidung gefällt. Sie hat alles in die
Wege geleitet, damit ich es meiner Mutter gestehen konnte. Sie hat sogar einen
Arzt verständigt für den Fall, daß Mama einen Schock erlitte. Meine schon
ohnehin so zerbrechliche, depressive, erschöpfte Mama würde dazu noch meine
Schmutzgeschichte verdauen müssen.
    »Und wenn sie nichts mehr mit mir zu
tun haben will?«
    »Ich werde einen vorübergehenden
Unterschlupf für dich finden. Aber denk nicht daran. Deine Mutter liebt dich.«
    Sonst noch was? Nicht daran denken, wo
ich seit Jahren an nichts anderes denke! Angst vor den anderen, von mir aus,
dreckig vor den anderen, einverstanden.

Weitere Kostenlose Bücher