Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
Haus, nehme den Wagen und bringe mich damit um.«
    »Das kannst du den Kindern nicht antun...
Beruhige dich. Ich leg’ jetzt auf.«
    »Wenn du auflegst, bringe ich mich um.
Ich schwöre dir, ich bring’ mich um.«
    Ich weine. Ich höre nicht mehr auf zu
weinen. Es ist widerlich, so zu weinen. Man könnte glauben, ich wollte mich mit
ihm umbringen. Ich verziehe mich auf die Terrasse, um mich allein auszuweinen.
Er wird sich nie umbringen. Er ist ein Heuchler, ich kenne ihn zu gut. Er ist
ein Erpresser. Er spielt mit der Sanftmütigkeit meiner Mutter. Es hat das erste
Mal geklappt, sie ist zurückgekommen. Also versucht er es noch einmal. Dieser
Kerl benimmt sich wie ein verwöhntes Kind, er glaubt, es genügt, mit dem Fuß
aufzustampfen, um sich zu schlagen und zu heulen, um an sein Ziel zu kommen. Er
ist lächerlich. So etwas bringt sich nicht um, schade.
    Sie hat aufgelegt. Er hat sich nicht
umgebracht.
    »Nathalie, das einzige, was ich ihm
zugestehe, werden die Ferien sein. Er hat das Recht, euch in den Ferien zu
sehen.«
    »Ich werde nicht zu ihm gehen. Ich geh’
arbeiten. Ich laß die Schule sausen und arbeite, damit bin ich aus dem
Schneider.«
    Mama schaut mich merkwürdig an. Sie
fragt sich, woher ich diesen Flaß habe. Woher der ihre kommt, weiß sie nur
allzu gut. Aber ich? Ich bin das Kind meines Vaters. Warum verabscheue ich ihn
so sehr?
    »Ich habe Angst, daß du dich wieder mit
ihm zusammentust. Daß du aus Mitleid nachgibst. Daß du nicht durchhältst. Er
wird nicht aufhören, dich zu erpressen. Deswegen weine ich.«
    Mama hatte nicht die Absicht, sich
erpressen zu lassen. Ich wußte nichts über ihr Leben, ihre Nächte mit ihm, so
wie sie von meinen nichts wußte. Ich habe später erfahren, daß wir uns in
ähnlichen Situationen befanden. Daß sie diesen Sadisten ertragen hatte wie ich.
Sie, um uns zu schützen. Ich aus Angst. Sie als Frau, ich als Kind. Da ist kein
Unterschied.
    Dennoch nahte der Tag, an dem ich reden
sollte, endlich mit ihr reden. Es war ein Freitag. Sie sollte den Zug nehmen,
um in unserer früheren Stadt irgendein Schreiben des Gerichtsvollziehers zu
unterzeichnen. Sie ist morgens aufgebrochen. Ich wollte nicht in die Schule
gehen. Ich hatte Angst. Ich stellte mir eine Menge Schauergeschichten vor. Er
würde an der Straßenecke lauern, sie überreden, sie schlagen, was weiß ich...
und man würde uns holen kommen und uns wieder in sein Gefängnis bringen. Ein
Tag der Angst. Ich wollte frei bleiben, mich nicht ins Klassenzimmer einsperren
lassen, auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Es war mir gelungen, Chantal
zu überreden, in der Schule anzurufen und zu sagen, ich sei krank. Bruno, der
auf Urlaub war, sollte am selben Abend kommen. Ich mußte wachsam sein.
    Um den Tag auszufüllen, hat Chantal mir
vorgeschlagen, ihr beim Abreißen der alten Tapete im Badezimmer behilflich zu
sein. Wir arbeiteten alle beide, ich beruhigte mich nach und nach inmitten des
Chaos von Schüsseln und Wassereimern, und dann klingelte das Telefon.
Anne-Marie, die Freundin von Mama, wollte sie dringend sprechen. Ich habe den
Nebenhörer abgenommen. Selbst ein Anruf von dort, der Stadt, wo er war, machte
mir Angst. Als könne er mich erreichen.
    »Ich hatte ihren Mann am Telefon. Er
sagte mir, er wollte nichts mehr von seinen Töchtern wissen. Nur seinen Sohn
würde er anerkennen. Er war sehr erregt. Komisch. Wie dumm, daß sie nicht da
ist, ich sollte besser mit ihr selber sprechen.«
    Was sollte das heißen? Eine neue
Erpressung?
    Chantal hat aufgelegt, zehn Minuten
später ein erneuter Anruf.
    Diesmal bin ich selber hingegangen.
Wieder ist es Mamas Freundin.
    »Bist du es, Nathalie? Dein Vater hat
mich gerade wieder angerufen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antworten soll.
Er will wissen, wo ihr seid. Vor zehn Minuten hat er geschrien, er würde sich
von seinen Töchtern lossagen, und jetzt will er wissen, wie’s euch geht.«
    »Sag ihm, daß es uns gut geht. Ich muß
jetzt auflegen, ich muß zur Schule.«
    Zehn Minuten später erneutes Klingeln.
    Diesmal konnte ich nicht den Hörer
abnehmen, offiziell war ich ja in der Schule. Wieder der Nebenhörer. Wieder
dieselbe Gesprächspartnerin.
    »Er hat wieder angerufen. Er hat mich
gebeten, folgendes auszurichten: ›Wenn Nathalie mich nicht vor morgen abend
anruft, habe ich gute Gründe, die ihre Mutter in den Selbstmord treiben werden.‹«
    Chantal spricht weiter, sie versteht
nicht, ich wohl. Ich höre nicht mehr darauf, was mir durch den

Weitere Kostenlose Bücher