Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
allein, und schlug mich mit
einer elenden Beweisaufnahme herum, die alle meine Kräfte in Anspruch nahm.
ALLE.
    Die Beweisaufnahme... Wenn du redest,
und du mußt es tun, wenn du überleben willst, mußt du wissen, daß reden zu
Anfang nichts bedeutet. Man wird dich bitten zu erzählen, dich genau
auszudrücken, Beweise zu erbringen... Du mußt beweisen, daß du nicht lügst. Du
mußt dich verteidigen, obwohl du das Opfer bist... das ist der Gipfel, oder
nicht?
    Wie oft hat man mich gefragt, warum ich
nicht früher den Mund aufgemacht habe? Ich hab’s satt, das zum hundertsten Male
zu erklären...
    Weil es Gründe dafür gegeben hatte!
Massenweise!
    Zuerst die Rechtsanwältin, die mit der
Scheidung beauftragt ist. Mama nimmt mich mit zu ihr, um das neue Faktum zu
erörtern. Ich bin das neue Faktum. Ich bin der Inzest. Antwort: »Machen Sie
sich keine Sorgen, ich werde um einen Termin bei einem Jugendrichter ansuchen.«
    Ein ganzes Juristenkauderwelsch, das
auf uns, die wir in Tränen aufgelöst sind, einprasselt. Die gute Frau war davon
nur mäßig berührt. Sie betrachtete die Angelegenheit als ein juristisches
Problem. Ich war zu einem juristischen Problem geworden.
    Wir mußten eine Woche lang warten,
bevor wir die Antwort vom Jugendgericht bekamen. Hatte es nicht besonders
eilig, das Jugendgericht...
    Ich verbrachte eine Woche damit,
Beruhigungspillen zu schlucken, zu rauchen, ratloser als je zuvor, entsetzlich
allein, überzeugt, daß niemand mich verstehen würde. Niemand.
    Mama hat es mit dem Katholischen
Hilfswerk versucht. Eine tüchtige Frau hat uns geraten, selbst zum Gericht zu
gehen und nicht zu warten.
    Das Gericht war riesig und
unpersönlich. Wir warteten seit einer halben Stunde auf den Richter. Dann
tauchte eine Sekretärin auf:
    »Aus welchem Grund möchten Sie diesen
Termin?«
    »Wegen eines Inzestfalles.«
    Das war der juristische Begriff. Ich.
    Sie ist ein paar Schritte auf die Tür
des Richters zugegangen, die immer noch geschlossen war. Dann hat sie gefragt:
    »Sind Sie das Opfer? Wollen Sie bei
Ihrer Mutter bleiben?«
    »Ja, warum?«
    »Warten Sie eine Minute.«
    Sie ist wieder weggegangen mit ihrem
niedlichen, gutsitzenden Kostüm, ihren wohlfrisierten Haaren und kam zurück, um
uns zu sagen:
    »Es tut mir leid, aber der
Jugendrichter kann Sie nicht empfangen, wenn Sie bei Ihrer Mutter bleiben
wollen. Dagegen können Sie den Erziehungsberater sprechen, er kümmert sich um
Minderjährige.«
    So ein Mist. Wozu sollte ein
Jugendrichter da sein? Um Minderjährige anzuhören und eine Lösung für ihre
Probleme zu finden. Nicht, um Kinder ins Gefängnis zu schicken oder sie in
Pflegefamilien unterzubringen, oder um sie vor einem Erziehungsberater wie
Ping-Pong-Bälle hin- und herzuwerfen. Ich wußte nur allzu gut, daß mich niemand
verstehen würde. Daß die Justiz nicht für uns, für mich, gemacht ist.
    Hätte ich also dieser blöden Sekretärin
sagen sollen, ich wollte nicht bei meiner Mutter bleiben, damit ein Richter
mich anhört?
    Was ist das für ein Blödsinn? Hat man
etwa Angst, daß meine Mutter mich zwingt, Geschichten zu erzählen, um bei ihrer
Scheidung zu gewinnen? Da liegt der Hund begraben. Das ist der richtige Dreh.
Hätte der richtige Dreh denn für mich daraus bestanden, daß meine Mutter mich
im hohen Bogen hinausschmeißt? Daß sie mich nicht mehr liebt? Das, was ich jahrelang
befürchtet hatte, was dann nicht eingetreten ist, wollten die Richter etwa das?
War das ihre Art und Weise, mit dem Problem umzugehen? Man nahm das von ihrem
Vater vergewaltigte Mädchen, steckte es in eine öffentliche Einrichtung, man
fragte sie aus wie eine dreckige kleine Lügnerin, für die man sie zuerst hielt,
und danach, erst danach, ließ man sich zu einem Gespräch herab? Sonst noch was?
Blödmänner.
    Jetzt sitze ich vor dem
Erziehungsberater. Es interessiert ihn nicht im mindesten, was ich ihm erzähle.
Er zeichnet komische Figuren auf sein Papier, und, von Zeit zu Zeit, stellt er
mir Fragen über bestimmte Details. Indiskrete. Zwei Stunden lang erzähle ich
ihm mein Leben. Was habe ich davon gehabt, als ich wieder herauskomme? Nichts.
    Ah, doch, ein intelligenter Mensch.
Eine Sekretärin, die auf uns zuläuft und zu uns sagt:
    »Sie müssen zuerst auf dem
Polizeikommissariat Anzeige erstatten, wenn Sie Erfolg haben wollen. Hat man
Ihnen das nicht gesagt?«
    Nein, leider nicht. Das konnte er wohl
nicht zu Anfang sagen, der Erziehungsberater? Dieser Knallkopf. Anstatt mich
all diese

Weitere Kostenlose Bücher