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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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schmutziger Blick auf mich richtet. Ich
müßte sonst kotzen. Aber ich halte durch.
    Man nimmt ihm die Handschellen ab. Er
scheint wohlauf zu sein. Ich bemerke, daß man ihm die Brille, seine Uhr, seinen
Ring weggenommen hat. Er kaut einen Kaugummi und wiegt sich auf seinem Stuhl
ständig hin und her.
    Ich habe mich seinem Blick noch nicht
ausgesetzt, ich registriere diese Details, indem ich ihn von der Seite beobachte.
    Erste Frage:
    »Monsieur... geben Sie zu, Ihre Tochter
Nathalie in der Zeitspanne von deren zwölften Lebensjahr an bis zum Alter von
siebzehneinhalb Jahren vergewaltigt zu haben?«
    »Nein. Ich habe Nathalie nie angerührt.
Alles, was sie sagt, hat ihre Mutter erfunden, um die Scheidung zu gewinnen.«
    Na, bitte. So hat er sich bis zum
Prozeß verteidigt. Nein, ich habe sie nicht angerührt, sie hat alles erfunden,
sie phantasiert, ihre Mutter zwingt sie zum Lügen.
    Ich hätte ihn auf der Stelle wie eine
Küchenschabe zerquetschen können!
    Doch niemand glaubt ihm.
    Die andere Frage richtet sich an mich.
Ich antworte. Er schweigt.
    Ich erinnere mich nicht mehr im
einzelnen, ich antwortete wie ein Automat, meine Beine zitterten, ich preßte
meine vor Angst feuchten Hände zusammen.
    Irgendwann muß ich etwas auf eine Frage
geantwortet haben, das ihm mißfiel, er hat eine Bewegung zu mir hin gemacht,
hat versucht aufzustehen, und ich bin vor Angst hochgeschreckt. Die Gendarmen
haben ihn gezwungen, sich ruhig zu halten. Und der Staatsanwalt hat ihn vor
versuchter Einschüchterung des Zeugen gewarnt. Ein Minuspunkt für ihn.
    In diesem Augenblick wollte ich mich
wegstehlen, hinausgehen, so schlecht fühlte ich mich. Nach einer Stunde der
Konfrontation waren wir immer noch nicht weiter gekommen. Er stritt alles ab.
Meine Mutter hätte die ganze Sache erfunden.
    Er war lächerlich. Dumm. Blöd. Eine
Niete.
    Wie konnte man glauben, eine Mutter
ließe ihre Tochter derartige Dinge erzählen, zwänge sie, sich öffentlich zu
besudeln, wegen eines simplen Scheidungsgesuches? Heute kann sich jeder
scheiden lassen. Je mehr man ihm den Stumpfsinn seiner Verteidigung vorwarf,
desto mehr hielt er daran fest.
    Eine lächerliche Gestalt.
    Drei Tage lang habe ich mich mit
Beruhigungspillen vollgestopft, zahllose Zigaretten geraucht. Alles lebte
wieder in mir auf. An Schlaf war nicht zu denken. Er war über mir, sein
gemeines Gesicht, seine schmutzigen Hände... Alle auf meinen Kopf gedrückten
Kopfkissen der Welt konnten nicht verhindern, daß ich ihn auftauchen sah. Wie
die Erinnerung an ihn auslöschen? Ich wäre gerne verrückt geworden,
anstaltsreif, wenn diese Erinnerungen zur selben Zeit verschwunden wären.
    In diesem Zustand befand ich mich, als
der Polizeikommandant der Gendarmerie mir drei Tage später am Telefon eine
unglaubliche Geschichte ankündigte.
    »Nathalie, nachdem Sie gegangen sind,
hat Ihr Vater zum Staatsanwalt gesagt, er habe einen Beweis dafür, daß Sie
lügen.«
    »Einen Beweis? Wie denn einen Beweis?
Welchen Beweis?«
    »Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.
Morgen werde ich zur Vernehmung da sein.«
    Die ganze Nacht habe ich den Satz in
meinem Kopf gewälzt. Was hatte er wohl erfinden können? Was ist in solchen
Fällen ein Beweis? Die einzigen Beweise, die er haben konnte, verurteilten ihn.
Die Fotos? Die Pornokassetten? Unmöglich. Im übrigen hatte er alles, was er
konnte, zu Beginn der Untersuchung verschwinden lassen, kurz bevor er
festgenommen wurde. Die Gendarme hatten bei ihm nur ein leeres Büro
vorgefunden. Der Teppichboden an den Wänden und am Boden war herausgerissen,
die Videokamera verschwunden... Nichts oder fast nichts, abgesehen von zwei
geliehenen Videofilmen, die er vergessen hatte. Horrorzeugs, von dem es den
Untersuchungsbeamten schlecht wurde. Tiere mit Frauen... Das war typisch für
meinen Vater, er war krank. Ein wahnsinniger Sadist. Dem man seine Krankheit
nicht ansah.
    Ein Beweis... Vielleicht hatte er Zeit
gehabt, sich eine Lüge auszudenken, aber welche? Schlaflose Nacht.
    Am nächsten Morgen um neun Uhr schleppe
ich meinen von Müdigkeit zerschlagenen Körper, meinen benommenen Kopf zur
Gendarmerie. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich bin ein Nervenbündel, und meine
Nerven zittern ohne Unterlaß.
    Der Polizeikommandant fragt:
    »Nathalie, kannst du mir sagen, welche
Tätowierungen dein Vater hat? Die Stellen, die Farbe, die Abbildungen, sofern
du dich daran erinnerst.«
    Ich muß, um ihm zu antworten, den
nackten Körper meines Vaters im Geist Revue

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