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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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passieren lassen. Ihnen ist es
gleich, ob mich das fertig macht. Aber ich antworte trotzdem.
    »Auf einem Finger hat er ein blaues
Stiefmütterchen, das ist für seine Mutter. Unten an der Schulter eine Art Tier...
auf dem anderen Arm... nein auf dem Unterarm eine Schlange, die sich um einen
Dolch, ein Messer schlängelt.«
    Ich habe so oft auf dieses Messer
gestarrt. So oft habe ich gewünscht, ich könnte es mit Händen greifen und
herausreißen, ich wäre dann in der Lage gewesen, ihn damit umzubringen. Aber es
war in seine Haut eingeritzt. Es gehörte mir nicht, ich würde es nie besitzen.
Verboten, es zu berühren. Dieses Messer sah aus wie er. Schmutzig, häßlich.
    »Sprich weiter, Nathalie...«
    »Auf der anderen Schulter war etwas
anderes, ich habe nie herausgefunden, was es darstellte...«
    Scheiße... Scheiße...
    Ich muß es wohl laut gesagt haben
dieses »Scheiße«, denn der Polizeikommandant fragt mich:
    »Was ist los?«
    Das ist los: Daß ich glaube, den
lächerlichen Trick erraten zu haben, den er versucht hat, aber ich sehe nicht,
inwiefern er ihm nützen sollte.
    »Er hat auch ein Pik-As. Schwarz oder
blau, ich weiß nicht.«
    »Wo hat er das?«
    »An einer ganz bestimmten Stelle.«
    »Das heißt?«
    »Auf... eben auf einer Stelle.«
    »Du willst sagen, daß dieses Pik-As auf
dem Glied deines Vaters eintätowiert ist?«
    »Mmm, ja, genau.«
    Ich kann das Wort Glied nicht
aussprechen... oder Begriffe, die dasselbe bedeuten. Unmöglich, es bleibt mir
im Halse stecken. Man könnte meinen, ich würde daran ersticken.
    »Erinnerst du dich an seine Farbe?«
    »Schwierig zu sagen... das hängt ab von...
ich meine, das hängt vom Licht ab... manchmal sah ich es blau, manchmal sah ich
es schwarz...«
    »Danke, das ist alles.«
    »Warum haben Sie mich das gefragt?«
    »Dein Vater hat dem Staatsanwalt
versichert, daß du nichts von dieser Tätowierung wüßtest... und das wäre der
Beweis, daß du lügst.«
    Es war beinahe komisch, das schwör’ ich
Ihnen. Wie die Leute, die bei Beerdigungen einen nervösen Lachanfall bekommen.
Ich verstand nicht. Er wußte, daß ich es wußte! Warum verteidigte er sich so?
Er hoffte, ich würde den Gendarmen nicht alles sagen. Ich hatte Schamgefühl.
Rechnete er damit? Aber du elender Dummkopf, du hast mir meine Scham mit allem
übrigen genommen! Ich habe keine mehr, oder fast keine. Meine intimen Gefühle,
meine Reaktionen auf den Horror, den Ekel, die Beschreibungen der erzwungenen
Sexualakte... Das mußte man mir entreißen, und das war Aufgabe der Ärzte, der
Psychologen. Aber dieses alberne Pik-As mit seiner zum Bauch hin gewandten
Spitze, dieser verfluchte Unheilbringer, der dein ganzer Stolz ist, weil du ihn
selbst darauftätowiert hast! Das war so wenig neben all dem anderen!
    Letztendlich war der Trick schlauer,
als ich dachte. Im Augenblick hatte ich nichts begriffen. Später habe ich
verstanden, daß er damit weiszumachen versuchte, meine Mutter habe mir dieses
Detail enthüllt, und zwinge mich folglich zum Lügen.
    Es war unglaublich schäbig von ihm,
sein Geschlecht zu seiner Verteidigung zu Hilfe zu nehmen! Schäbig. Jetzt hatte
er Angst. Er begann zu begreifen, daß die Gendarmen ihn nicht so einfach wieder
gehenließen.
    Einige Tage später wurde er dann
inhaftiert. Hinter Schloß und Riegel gesteckt. Wenigstens das hatte ich
erreicht. Zwar nur Untersuchungshaft, aber er begann zu bezahlen. Er hat Angst
vor dem Gefängnis. Er ist schon einmal drin gewesen. Er erträgt es nicht. Keine
Joints, keinen Kaffee mehr, keine Videopornos, keine Kumpel, keine Huren mehr...
Das ist im Grunde nicht viel, aber immerhin etwas. Ich muß mir Mut machen. Denn
für mich ist es schlimmer.
    September 1988. Ich muß in die Schule
zurück. Ich habe so viel nachzuholen, daß ich mit Ach und Krach das Pensum der
Oberprima B schaffe. Nichts interessiert mich. Mir bleibt nur noch Bruno. Aber
ich bin zu unausgeglichen. Ich muß einen Schlußstrich unter die Vergangenheit
ziehen. Also beschließe ich eines Tages, die Beziehung ohne ersichtlichen Grund
zu beenden. Ich muß frei, muß ohne Mann sein. Ich habe mich von meinem Vater
gelöst, nun ist noch Bruno da. Ich liebe ihn, meinen Bruno. Aber ich kann
keinen Mann mehr sehen. Das ist kompliziert. Aber so ist es halt. Ich habe
nicht die Absicht, mich vor Ihnen zu entblößen. Ich liebte Bruno zwar, aber ich
wollte keinen Mann mehr. Im Moment ertrug ich einfach keinen. Ich glaube, er
hat es verstanden, das ist die Hauptsache. Heute

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