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Ich weiss, dass du luegst

Ich weiss, dass du luegst

Titel: Ich weiss, dass du luegst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Ekman
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wiederholt werden, hätten beide zum Zeitpunkt ihrer Aussage wenig Chancen, sich noch daran zu erinnern, dass keine Behauptung ganz der Wahrheit entsprach.
    Thomas könnte vergessen haben, was er tat, und selbst wenn er sich erinnert, ist es eine entschärfte Erinnerung. Sein Ärger über ihre Anschuldigungen wäre dann völlig gerechtfertigt. Er lügt nicht, jedenfalls nicht nach seiner Erinnerung an die Vorfälle, also sagt er die Wahrheit. Wenn es irgendeinen Grund für Hill gab, Thomas eine erlebte oder eingebildete Geringschätzung oder einen Affront übelzunehmen oder aus einem anderen Grund über ihn verärgert zu sein, könnte sie im Lauf der Zeit dazu übergegangen sein, die tatsächlichen Vorfälle auszuschmücken und zu übertreiben. So würde auch sie die Wahrheit sagen, wie sie sich an die Ereignisse zu erinnern glaubt. Das kommt dem Selbstbetrug schon sehr nahe, wobei der Hauptunterschied in diesem Fall darin liegt, dass sich der falsche Glaube nur langsam im Lauf der Zeit durch Wiederholungen, die jedes Mal weiter ausgeschmückt werden, entwickelt. Manche Autoren, die über Selbstbetrug schreiben, sind vielleicht der Meinung, dass dieser Unterschied nicht viel ausmacht.
    Es gibt keine Möglichkeit, aus ihrem Verhalten zu schließen, welcher Bericht wahr ist - ist er der Lügner, ist sie die Lügnerin, oder sagen sie beide nicht die ganze Wahrheit? Aber wenn Menschen unmissverständliche Überzeugungen haben - über sexuelle Belästigung, wer dem Obersten Gerichtshof angehören sollte, über Senatoren, über Männer und so weiter -, fällt es schwer, eine Meinung zu tolerieren, die zu keiner eindeutigen Schlussfolgerung gelangt. Die meisten Menschen reagieren auf diese Zweideutigkeiten, indem sie restlos überzeugt sind, aus dem Verhalten der Verdächtigen zu schließen, wer die Wahrheit sagt. Zunächst ist es normalerweise die Person, die ihnen am sympathischsten ist.
    Es ist ja nicht so, dass Verhaltenshinweise auf ein Täuschungsmanöver nutzlos sind, aber man sollte wissen, wann dies so ist und wann nicht, und wie man akzeptiert, dass wir nicht entscheiden können, ob jemand ehrlich ist oder die Unwahrheit sagt. Es gibt eine Verjährungsfrist von neunzig Tagen, was Beschuldigungen wegen sexueller Belästigung betrifft. Eine sehr guter Grund für diese Frist ist die Frische der Erinnerung. Verhaltenshinweise auf Täuschungen lassen sich dann möglicherweise auch besser aufspüren. Wäre es möglich gewesen, die Aussagen von Thomas und Hill innerhalb weniger Wochen nach der angeblichen Belästigung zu sehen, wäre die Chance viel größer gewesen, aus ihrem Verhalten zu schließen, wer die Wahrheit sagt. Vielleicht wären dann Beschuldigung und Leugnung anders ausgefallen.

    Ein Land der Lügen

    Vor einigen Jahren sah es so aus, als sei Amerika ein Land der Lügen geworden: die Lügen Johnsons über den Vietnamkrieg, Nixons Watergate-Skandal und Reagans Iran-Contra-Affäre. Welche Rolle spielte Senator Edward Kennedy beim mysteriösen Tod einer Freundin in Chapaquiddick? Senator Bidens Plagiat und die Lüge von Senator Gary Hart im 1984er Präsidentschaftswahlkampf über seine außereheliche Affäre verstärkten meinen Eindruck. Aber nicht nur in der Politik sind Lügen auf dem Vormarsch, sondern auch in der Wirtschaftswelt, in der Wall Street, bei Geldanlage- und Darlehensskandalen. Auch im Sport sind Lügen gang und gäbe. Baseball- Superstar Pete Rose verheimlichte sein Glücksspiel, und Olympiaathlet Ben Johnson leugnete Doping.
    Dann begab ich mich im Mai 1990 fünf Wochen auf Vortragsreise durch Russland. Als Fulbright-Professor war ich bereits 1979 in Russland gewesen und war erstaunt, wie viel freimütiger die Menschen inzwischen waren. Sie hatten jetzt keine Angst mehr, mit einem Amerikaner zu sprechen oder ihre eigene Regierung zu kritisieren. «Sie sind ins richtige Land gekommen», bekam ich häufig zu hören. «Dies ist ein Land der Lügen! Siebzig Jahre nichts als Lügen!» Immer wieder erzählten mir Russen, dass sie stets gewusst hatten, wie sehr sie von ihrer Regierung belogen worden waren. Dennoch erlebte ich in den fünf Wochen dort, wie fassungslos sie waren, von neuen Lügen zu erfahren, von denen sie zuvor nichts geahnt hatten. Zum Beispiel gehörte dazu die Wahrheit über das Leiden der Menschen in Leningrad während des Zweiten Weltkriegs.
    Schon bald nach der Invasion Russlands durch NaziDeutschland 1941 schlossen die deutschen Truppen Leningrad (heute St. Petersburg) ein.

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