Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
selbst eine hysterische Kuh geschimpft hatte, als Julie noch vor Mitternacht wohlbehalten nach Hause gekommen war. Kurz darauf hatten sie und Ray sich überraschend getrennt und Ray war nach Kalifornien gegangen.
Trotzdem verspürte sie seitdem ständig eine diffuse Sorge um Julie, die sie nicht näher bestimmen konnte. Ihre Tochter schien sich verändert zu haben, sie war deutlich stiller und ernster als früher, verbrachte viel Zeit mit Lernen und schien sich kaum mehr mit Freunden zu treffen. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass Ray weg gewesen war, Mrs James wusste es nicht.
Sie wird erwachsen , hatte sie sich zu beschwichtigen versucht. Da ist nichts, worüber ich beunruhigt sein müsste. Sie hat sich lediglich von einem unbeschwerten jungen Mädchen zu einer ernsthaften jungen Frau entwickelt.
Mrs James wusste nicht, was sie von dieser Veränderung halten sollte. Es war schön gewesen, mit der alten, unbekümmerten Julie zusammenzuleben. Andererseits war es vermutlich normal, dass man sich als Mutter erst einmal an den Gedanken gewöhnen musste, dass das eigene Kind erwachsen wurde.
Seit einiger Zeit war jedoch eine immer stärker werdende Unruhe dazugekommen, eine innere Nervosität, die sie sich nicht erklären konnte.
An den Tagen, an denen sie Vertretungsstunden übernahm und nach dem Unterricht länger in der Schule bleiben musste, um Stundenprotokolle zur Information für die regulären Lehrer zu schreiben, rief sie Julie öfter zu Hause oder auf dem Handy an, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Sie hatte in den letzten Wochen auch fast vollständig darauf verzichtet, sich mit Freundinnen zu treffen und ins Theater oder ins Kino zu gehen, weil sie das Gefühl hatte, es wäre besser, zu Hause zu bleiben.
Nur für den Fall , sagte sie sich. Für welchen Fall, das wusste sie nicht.
Heute Abend wusste sie allerdings, warum sie zu Hause geblieben war. Heute Abend gab es einen Grund. Den ganzen Tag über war sie das Bild von Julie nicht losgeworden, wie sie am Abend zuvor in der Küche gestanden und sie mit einem beinahe flehentlichen Ausdruck in den Augen angeschaut hatte. Was ging in ihr vor? Was brauchte sie?
»Ich liebe dich, Mom«, hatte sie gesagt. »Ich liebe dich über alles.«
Sie hatte es mit einer Dringlichkeit gesagt, als wäre sie in höchster Not. Genauso gut hätte sie »Mom, bitte hilf mir!« sagen können. Das Flehen hatte nicht in den Worten, sondern in ihrer Stimme gelegen.
Irgendetwas stimmt nicht, dachte Mrs James und starrte auf die unberührte Tasse Kaffee, die vor ihr stand. Wenn ich nur wüsste, was es ist, dann könnte ich ihr helfen. Aber ich habe noch nicht einmal die leiseste Ahnung.
Julie war oben und machte sich für ihre Verabredung mit Bud fertig. Aus ihrem Zimmer im Obergeschoss drang leise Musik hinunter und vermischte sich mit dem Zirpen der Grille im Garten.
Es war ein wunderbar lauer Frühlingsabend. Ein Abend – wie Mrs James mit zunehmender Gewissheit klar wurde –, an dem irgendjemandem etwas Schreckliches zustoßen würde.
Mr Rivers lehnte sich im Küchenstuhl zurück und fragte: »Gibt es noch mehr Kartoffeln?«
»Natürlich. Wenn es in diesem Haus etwas gibt, was nie ausgeht, dann sind es Kartoffeln.« Seine Frau wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und öffnete den Backofen, um die Schüssel herauszuholen. »Finger weg, Elsa«, schimpfte sie, als ihre Tochter Anstalten machte, ihre Gabel in eine der Kartoffeln zu stecken. »Dad hat es nötiger als du. Du brauchst nun wirklich keinen Nachschlag mehr.«
»Willst du etwa, dass ich wie Helen aussehe?«, gab Elsa beleidigt zurück. »Das kannst du vergessen. Ich werde bestimmt nicht hungern so wie sie, in der Hoffnung, dass mir dann irgendein Fernsehsender einen Job anbietet.«
»Helen hat einen unglaublich starken Willen«, meinte Mr Rivers, während er sich Bratensoße auf den Teller schöpfte. »Und genau der hat sie dahin gebracht, wo sie jetzt ist.«
»Einen starken Willen, dass ich nicht lache! Helen ist nur deswegen so weit gekommen, weil sie eine rücksichtslose Egoistin ist.«
Mrs Rivers schlug geräuschvoll die Backofentür zu und drehte sich zu ihrer Tochter um. Sie war eine schmale blasse Frau, die in ihrer Jugend einmal ganz hübsch gewesen war, doch die Strapazen des Alltags – die vielen Schwangerschaften, die nie enden wollende Hausarbeit, die ständigen Geldsorgen – hatten sie sichtlich gezeichnet. Die veilchenblauen Augen, die sie ihrer zweitältesten
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