Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
leid, das macht nicht gerade Mut, aber ich sage dir lieber ehrlich, wie es war.«
Missbrauchs-Forum, 17. Juni 2011, 23:07 Uhr
»Ich kann gerade nichts schreiben. Aber ich fühle mit dir.«
Missbrauchs-Forum, 17. Juni 2011, 23:19 Uhr
Die vielen Antworten überwältigen mich. Irgendwie fangen sie mich auf. Auch wenn es meist deprimierend ist, was die anderen schreiben. Aber sie geben mir das Gefühl, nicht alleine zu sein auf der Welt. Gerührt schreibe ich:
»Vielen Dank für eure lieben Antworten. Bin froh, dass sie so ehrlich sind. Im Moment habe ich das Gefühl, daran zu zerbrechen. An den Gedanken und Gefühlen. An dem Druck. Versuche, auf mich zu achten. Aber wenn einem alles aus der Hand läuft. Oder genommen wird. Fühle mich völlig hilflos. Bewundere alle, die es geschafft haben.«
Missbrauchs-Forum, 17. Juni 2011, 23:25 Uhr
Dann gehe ich schlafen. Zumindest lege ich mich ins Bett. Schlafen kann ich nicht. Mir schießen Bilder von meinem Stiefvater in den Kopf. Ich erinnere mich daran, wie ich früher immer in meinem Bett gelegen habe und Angst hatte, ER könnte zu mir ins Zimmer kommen. Wenn ich seine schweren Schritte auf der Treppe gehört habe, habe ich die Luft angehalten. Schlagartig war ich hellwach, habe ganz intensiv riechen, hören und sehen können. In meiner Erinnerung erkenne ich trotz Dunkelheit deutlich die Umrisse der Tür. Bitte, lass sie nicht aufgehen! Bitte, lass sie zubleiben! Und wenn seine Schritte dann in Richtung Zimmer meines Bruders abbogen, war ich erleichtert. Gleichzeitig habe ich mich für mein Aufatmen geschämt. Ich wusste, dass nun Alex dran war. Denn: Seine Wut an meinem Bruder auszulassen, war wahrscheinlich seine zweitliebste Beschäftigung. Regelmäßig hat er Alex verprügelt. Bei nichtigen Anlässen. Etwa weil er sein Glas nicht gleich nach dem Benutzen in die Spülmaschine gestellt hat. Oder weil er vergessen hat, seine Jacke aufzuhängen. Oder weil er zwei Minuten zu spät nach Hause kam. Oder auch, wenn ich es gewagt hatte, nur einen Hauch von Widerstand gegen ihn zu leisten. Dann hat er erst seinen Ärger an mir ausgelassen und ist anschließend direkt aus meinem Zimmer rüber zu Alex. Manchmal habe ich auch meinen Bruder schützen wollen, indem ich einfach getan habe, was er wollte. Wie oft hatte ich Angst, er könnte mich oder Alex irgendwann totschlagen.
Heute frage ich mich, ob mein Bruder vielleicht mit denselben Gedanken in seinem Bett lag, ob er genauso auf die Schritte gelauscht hat und gehofft hat: Bitte, lass ihn zu Anna abbiegen! Was für eine schreckliche Vorstellung! Bei Alex lief zwar fast immer laute Musik, aber trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er nicht wusste, was unser Stiefvater mir antat. Er wusste wahrscheinlich genauso wenig wie ich, was man dagegen tun konnte. Ich vermute, das ist auch der Grund, warum Alex und ich heute kaum noch Kontakt miteinander haben, obwohl wir uns als Kinder gut verstanden haben. Vielleicht schämen wir uns zu sehr voreinander …
Wir haben beide sehr unter unserem Stiefvater gelitten. Und leiden noch heute.
Mein Bruder rutschte schon früh in eine Essstörung und verbrachte dementsprechend viel Zeit in irgendwelchen Kliniken. Dann war ich nicht nur für die sexuelle Befriedigung, sondern auch fürs Wutablassen zuständig. Manchmal hat er mich geschlagen, bis ich bewusstlos war.
Zum ersten Mal etwa ein halbes Jahr nach seinem Einzug. Ich weiß gar nicht mehr, warum. Irgendetwas wollte ich nicht machen. Irgendetwas ganz Banales. Mein Stiefvater hat mich dann hoch in mein Zimmer gezerrt und mich dort verprügelt. Er ist wie ein wildes Tier über mich hergefallen und hat auf alles eingeschlagen, was er erwischt hat. Ich konnte mich nicht schützen, ich hatte keine Chance. Ich habe mich nur noch zusammengerollt und gewartet, dass es aufhört. Am nächsten Tag tat mir mein ganzer Körper weh. Im Badezimmer habe ich gesehen, dass ich überall blaue Flecken hatte und fürchterlich aussah. Meine Mutter hat mich dann nur in der Schule abgemeldet und sonst überhaupt nicht reagiert.
Mein Stiefvater war ein Monster.
Unsere Mutter litt genauso unter ihm. Die beiden waren noch gar nicht lange zusammen – vielleicht ein Jahr –, als ich morgens die Treppe hinunterkam und meine Mutter mit einem blauen Auge am Küchentisch saß. Ich habe sie erstaunt angesehen: »Was ist dir denn passiert?« Sie begann eilig, ihre Kaffeetasse auszuspülen, während sie nuschelte: »Bin gegen einen Schrank gelaufen.« Nie im
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