Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
kümmere. Mehr aus Leidenschaft als des Geldes wegen. Tatsächlich würde ich fast dafür zahlen, hierherkommen zu dürfen. Es gibt kaum etwas, das mich so gut ablenkt. Sobald die Pferde meine Schritte hören, drehen sie ihren Kopf in meine Richtung und schnauben mir freundlich entgegen. Sie erkennen mich schon am Gang. Obwohl das jedes Mal so ist, freue ich mich darüber. Jeden Tag aufs Neue. Ohne das Reiten gäbe es vermutlich gar nichts, was mich am Leben hält. Reiten erinnert mich daran, dass Leben auch Spaß machen kann. Dann fühle ich mich so frei und glücklich wie sonst nie. Wenn ich im Galopp über den Parcours fliege, bin ich ganz leicht und frei von allen Erinnerungen und bösen Gedanken. Wenn ich die großen, prächtigen Tiere streichele und ihre Wärme und Kraft spüre, habe ich ein wenig das Gefühl, dass ich mich wieder mit Energie auflade.
Das war schon immer so. Als es bei meinen Freundinnen Kerry und Sophia mit den ersten ernsteren Beziehungen und Partys losging, konnte ich nichts damit anfangen. Jeden Versuch eines Jungen, mit mir Kontakt aufzunehmen, habe ich eisern abgeblockt. Ins Kino gehen, Eis essen – ich wollte von alledem nichts wissen! Denn dann hätte ich den Jungen auch irgendwann anfassen oder mich anfassen lassen müssen und da wurde mir schon bei dem Gedanken ganz übel. Meine Freundinnen haben das nie verstanden. Klar, sie wissen ja auch nicht, was mit mir los ist. Und wenn sie dann diesen oder jenen Jungen gut fanden, haben sie zu mir immer gesagt: »Du heiratest bestimmt mal ein Pferd.« Und ich habe nur gelacht.
Obwohl ich noch immer wirklich selten abends mit ihnen ausgehe, rufen meine Mädels jedes Wochenende an und versuchen, mich zu überreden.
Nachdem ich den ganzen Tag im Stall gewurschtelt habe, sehe ich auch heute auf meinem Handy-Display, dass sie am Nachmittag schon mehrmals angerufen haben. Ich wähle Kerrys Nummer: »Bitte, Anna. Raff dich mal auf und komm mit!«, bettelt meine quirlige Freundin am Telefon.
Ich kenne sie schon seit etwa zehn Jahren. Wir haben uns über eine gemeinsame Reitfreundin kennengelernt und uns auf Anhieb gut verstanden. »Ich bin noch im Stall und werde bestimmt noch bis 22 Uhr bleiben«, wimmele ich sie ab – mal wieder – und wundere mich in dem Moment selbst, dass meine Freundinnen sich trotzdem weiterhin melden. Und dann spüre ich das warme Gefühl der Freude über meine Mädels: Sie sind wirklich treu und anhänglich. Umso schlechter fühle ich mich, dass ich ihnen noch nie erzählt habe, was wirklich mit mir los ist. Ich habe Angst, dass sie sich dann vor mir ekeln könnten. Und ich habe Angst vor ihren Fragen, vor allem vor der »Warum hast du dich denn nicht gewehrt?«-Frage. Schon mehrmals habe ich darüber nachgedacht, es ihnen zu sagen, aber dann hat mir doch der Mut gefehlt.
»Schade«, sagt Kerry nun am anderen Ende der Leitung. »Dann besuche ich dich eben morgen im Stall. Ich frage auch Sophia, ob sie mitkommt. Sie zieht ja schon bald weg und möchte dich sicher noch ein bisschen sehen.« Dann legen wir auf. Als ich das Klicken höre, fühle ich mich plötzlich doch traurig, weil ich abgesagt habe. Wie gerne wäre ich eine ganz normale junge Frau, die ihr Leben genießt und am Wochenende abends feiert und morgens irgendwo ins Café zum Frühstücken fährt!
Stattdessen fahre ich auch am Sonntag gleich früh in den Stall und freue mich, als gegen Mittag meine beiden Freundinnen auftauchen. Sie sind beide ebenfalls Pferdenärrinnen und helfen mir gerne bei der Arbeit. Es ist ein schöner Tag, an dem ich alles andere beinahe vergesse. Erst am Abend überkommt mich erneut die Panik. Denn der nächste Tag ist ein Montag. Ein ganz normaler Arbeitstag. Und ich habe Angst, dass mit dem Montag wieder die Fragen kommen: von meinem Ausbildungsleiter, der Polizei, vom Anwalt und vom Weißen Ring. Nun muss ich mich wieder zusammenreißen und einfach funktionieren. Das klappt ja meistens auch ganz gut. Meine Kollegen sind mit meiner Arbeit zufrieden, ich glaube, ich bin einigermaßen beliebt. Alltag schaffe ich.
Nur den zweiten Verhörtermin, den schaffe ich nicht. Mein Körper wehrt sich dagegen. Er fährt einfach nicht mit mir zur Polizei, tippt aber auch nicht die Nummer, um abzusagen. Er erledigt seine Arbeit in der Pressestelle und fährt dann ganz automatisch zum Stall, wo mich dann Kriminalkommissar Krause auf dem Handy erreicht: »Anna, wir waren doch verabredet.« Er sagt das so. Ganz nüchtern. Ohne Vorwurf. »Es tut
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