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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Mein Herz pocht wie verrückt. Es fällt mir schwer, wieder einzuschlafen. Je wacher ich werde, desto klarer werden meine Gedanken: Ob meine Mutter schon von meiner Anzeige weiß? Ob die Polizisten gestern gleich zu ihr gefahren sind? Jetzt werde ich panisch. Das wird sie mir nie verzeihen. Auch wenn der Typ sie schlägt und mies behandelt, auch wenn sie weiß, was er ihren Kindern angetan hat – sie wird mir nie verzeihen, dass ich ihn angezeigt habe. Ich schließe die Augen, versuche, mich wegzudenken, um wieder einzuschlafen, aber es gelingt mir nicht: Mein Herz schlägt zu heftig, mein Blut strömt zu laut, zu viele Bilder tauchen auf. Ich habe Angst vor neuen Bildern. Vor schlimmeren Bildern. Ich beschließe aufzustehen. Draußen ist es noch dunkel.
    Weil ich nicht weiß, was ich tun soll, klappe ich meinen Laptop auf. Vielleicht haben mir noch weitere Betroffene geschrieben. Und tatsächlich:
    »Auch ich bewundere alle, die es geschafft haben. Ich gehöre leider nicht dazu. Leider habe ich mich nie getraut anzuzeigen. Jetzt im Nachhinein finde ich das auch okay so. Dir wünsche ich viel Kraft und eine gute Unterstützung!«
    Missbrauchs-Forum, 18. Juni 2011, 0:25 Uhr
    »Kannst du dir nicht doch eine therapeutische Unterstützung suchen? Dir wird es sicher oft nicht gut gehen und dann kannst du eine Hilfe gut gebrauchen. Tut mir sehr leid, wie es dir geht.«
    Missbrauchs-Forum, 18. Juni 2011, 0:51 Uhr
    »Darf ich fragen, warum du Anzeige erstattet hast? War es freiwillig oder bist du dazu gedrängt worden? Ich habe das Ganze endlich hinter mir. Es war hart. Zwischendurch habe ich immer wieder geglaubt, es nicht zu schaffen. Deshalb war mein Anwalt bei allen Vernehmungen dabei. Und wenn ich es nicht aussprechen konnte, habe ich es eben aufgeschrieben. Das konnte auch verwendet werden. Und zwischendurch hat mein Arzt mir ein Attest geschrieben, dass ich nicht vernehmungsfähig bin. Es war eine Qual. Und letztlich ist das Verfahren nach zwei Jahren einfach eingestellt worden.«
    Missbrauchs-Forum, 18. Juni 2011, 1:03 Uhr
    »Bei mir hat das Ganze sieben (!) Jahre gedauert. Aber keine Angst: Manchmal geht es auch schneller. Ich habe es geschafft – oder besser: überlebt. Früher hätte ich jedem geraten, Anzeige zu erstatten. Heute weiß ich nicht, was besser ist. Viele Menschen werden dir nicht glauben. Der eine Täter hat drei Jahre bekommen, beim zweiten ist das Verfahren gerade eingestellt worden. Damit komme ich überhaupt nicht klar. So was sollte man nur machen, wenn man sehr stabil ist.«
    Missbrauchs-Forum, 18. Juni 2011, 1:06 Uhr
    Großartig. Das liest sich alles gar nicht gut. Ich war ja ohnehin schon völlig mutlos und überfordert. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich meine Gefühle beschreiben soll. Ich möchte einfach nicht mehr da sein. Nachdem ich diese Nachrichten gelesen habe, bin ich mir sicher, es nicht durchhalten zu können. Mir fehlt ja schon jetzt die Kraft. Dabei ist es noch gar nicht richtig losgegangen. Während ich atemlos vor mich hin starre, spüre ich, wie mir schon wieder Tränen über das Gesicht kullern. Sie tropfen auf die Tastatur. Egal. Ich schreibe:
    »Das tut mir so leid. Nach zwei Jahren ist das Verfahren eingestellt worden? Das kann doch nicht sein! Das ist so ungerecht. Deine ganze Kraft. Es tut mir unendlich leid und weh. Hab da auch so wahnsinnig Angst vor. Habe niemanden, mit dem ich darüber reden kann oder will. In meinem privaten Umfeld. Ich könnte nicht damit leben, wenn es rauskommt. Ich will das einfach nicht. Hab doch so schon ständig Angst, das Gefühl, dass jeder es mir ansehen kann … Mein Arbeitgeber weiß ansatzweise was und natürlich ist er keine Option zum Reden. Ich habe Angst, mein Leben in fremde Hände zu geben. Wenn man weiß, wozu Menschen fähig sein können. Wie soll das gehen?«
    Missbrauchs-Forum, 18. Juni 2011, 3:42 Uhr
    Wenig später steige ich auf mein Fahrrad. Ich muss mich jetzt bewegen, muss den kühlen Morgenwind spüren. Ich fahre am Rhein entlang, genieße dieses ständige Fließen des Wassers.
    Um diese Zeit ist es hier noch menschenleer. Die Dämmerung taucht die Landschaft in ein besonderes Licht. Ich glaube sofort, dass Siegfried hier gegen den Drachen gekämpft hat – diese Gegend hat etwas Märchenhaftes. Noch ein letzter Blick zum Rhein, dann biege ich nach rechts in Richtung Reitstall ab. Es geht bergauf und das ist ziemlich anstrengend. Schnaufend komme ich am Stall an, wo ich mich seit mehreren Jahren um die Pferde

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