Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
mitzuteilen: »Noch etwas, Frau B. Wir sollten ein Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen lassen. Wenn das positiv ausfällt, also wenn man Ihnen glaubt – und davon gehe ich aus –, dann ist der Täter schon so gut wie verurteilt. Diesen psychologischen Gutachten folgt das Gericht fast immer.« Ich bin wie erschlagen. Denn das bedeutet: schon wieder reden!
Noch lange nachdem wir aufgelegt haben, sitze ich in meiner Küche und starre vor mich hin. Ich hätte nie zur Polizei gehen sollen! Selbst schuld! Ich habe es mal wieder versaut und mich selbst in diese ätzende Lage gebracht. Ich bin einfach zu dumm!
Vor Kurzem habe ich irgendwo gelesen, dass nur etwa jedes zehnte Opfer seinen Missbrauch anzeigt. Jetzt weiß ich auch genau, warum. Die sind einfach schlauer als ich und halten die Klappe. Und offenbar sind sie auch nicht so dämlich jämmerlich, dass ihnen jeder sofort anmerkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Ich hätte mich eben besser zusammenreißen müssen! Und wieder bin ich auf mich wütend. Dabei fällt mir auf, dass ich auch auf meinen Stiefvater sauer sein sollte, weil er mir das angetan hat. Oder auf meine Mutter, weil sie mir nicht geholfen hat. Aber diese Wut fühle ich nicht, stattdessen fühle ich nur die Wut gegen mich selbst. Wut, die mich beinahe platzen lässt, die mir den Atem raubt. Wut, die ich unbedingt ablassen muss. Wut, die mich schließlich wieder zum Küchenmesser greifen lässt … Ich habe es so satt!
Ein paar Wochen später erzählt mir mein Anwalt bei einem Treffen, dass mein Stiefvater festgenommen wurde. »Er sitzt nun in Untersuchungshaft. Die Polizei scheint mit seiner Verurteilung zu rechnen.« Seine Stimme klingt erfreut. Erwartungsvoll schaut er mich an. Glaubt er, dass ich mich nun auch freue? »Das ist gut«, sage ich vage. Mein Herz rast. Und das Einzige, woran ich denken kann, ist meine Mutter. Das wird sie mir nie verzeihen! Das wird sie mir nie verzeihen!, schießt es mir pausenlos in den Kopf. Ich kann kaum atmen. Und ich kenne das Gefühl, das da gerade Besitz von mir ergreift, nur zu gut: Es ist Panik. Panik vor dem, was nun kommt. Wie wird meine Mutter reagieren, wenn sie mich das nächste Mal sieht? Wird sie überhaupt noch mit mir sprechen wollen? Und dann meldet sich ganz leise eine kleine Hoffnung: Ist sie vielleicht auch ein bisschen froh, dass er weg ist? Aber dieses winzig kleine positive Gefühl wird sofort wieder von der Panik plattgemacht: Meine Mutter wird mich hassen!
Herr Rabe sitzt währenddessen ganz ruhig vor mir und sieht mich an. Dann fragt er, wie mein Termin bei der Psychologin für das Gutachten gelaufen ist, den ich mittlerweile hinter mich gebracht habe.
»Gut«, sage ich und denke gleichzeitig: Schrecklich! Es war genau wie bei der anderen Psychologin, nur dass die Gutachten-Frau sich ein wenig mehr Zeit genommen hat. Herr Rabe nickt zufrieden. Aus seiner Sicht scheinen die Dinge gut zu laufen. Und was ist mit mir? Denkt irgendjemand mal an mich? Ich fühle mich wie ein Gegenstand, der durch die Gegend geschleudert wird, um zu demonstrieren, was rechtens ist. In Deutschland darf man eben keine Kinder missbrauchen, also muss man genau diesen Weg gehen. Und zwar schnell! Was das mit den Betroffenen macht, daran scheint keiner einen Gedanken zu verschwenden. Das scheint niemanden zu interessieren. Worum geht es also? Um mich und meine Gefühle? Oder nur um die Einhaltung von Gesetzen? Ich glaube, es geht hier nur um Paragrafen. Das Opfer wird noch einmal geopfert. Für den Prozess.
»Die Psychologin hält Ihre Aussagen für glaubwürdig. Das ist großartig«, fährt Herr Rabe fort und schiebt ein paar Blätter Papier in meine Richtung. Das Gutachten. Das ist also auch schon da. Ich lese und kann nur Bruchstücke erfassen.
»Frau B. kann sich kaum äußern, blickt beschämt zur Seite, wirkt ängstlich, nahezu mutistisch … Sie fühlt sich einsam und verlassen … Klaffende Wunden an den Unterarmen … Klinikaufenthalt sinnvoll, aber eine Aufnahme unter Druck käme einer Wiederholung der psychischen Gewalt, der Frau B. jahrelang ausgesetzt war, gleich … Wach, selbstunsicher, fahrig, innerlich erhebliche Unruhe, zitternd … Frau B. traut sich nicht, sich zu öffnen … Zu Suizidalität aktuell glaubhaft distanziert (aber latent aufgrund der Situation gefährdet) … Äußerlich erkennbar sind suborbitale Hämatome beiderseits … Frau B. zeigt eine geringe Reflexionsfähigkeit bezüglich ihres Störungsbildes … Akute
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