Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
stelle ich mir vor, einfach gegen einen Brückenpfeiler zu fahren«, schluchze ich schließlich in den Hörer, woraufhin Frau Schmitz einfach nur seufzt. Ich spüre ihr Mitgefühl, aber sie weiß wohl nicht, was sie sagen soll. Vielleicht schockiert sie die Heftigkeit meiner Gefühle. Ich überfordere sie. Und das wiederum verunsichert mich. Schließlich sollten mein Anwalt und diese Opferbetreuerin doch mit Geschichten wie meiner umgehen können. Wie sehr würde ich erst jemanden überfordern, der nicht »vom Fach« ist? Meine Freundinnen Kerry und Sophia zum Beispiel. Seit Sophia nach Süddeutschland gezogen ist, ist Kerry häufiger im Stall. Sie scheint zu spüren, dass es mir in letzter Zeit schlechter geht. »Ist wirklich nichts?«, fragt sie immer wieder. Aber ich traue mich nicht, ehrlich zu sein. Und das fühlt sich schrecklich an. Sie ist doch meine liebste Freundin. Aber würde ich es ihr erzählen, wäre es ihr wahrscheinlich zu viel. Womöglich wäre ich ihr zu viel und nur schwer zu ertragen. Und das macht mich traurig.
Während ich über all das nachdenke, vergesse ich beinahe, dass Frau Schmitz noch am Telefon ist. Sie schweigt ebenfalls, dann schlägt sie vor: »Warum gehen Sie nicht einmal zu einer Psychologin? Ich könnte Ihnen eine Adresse geben.« Und obwohl ich mich seit Jahren gegen die Idee wehre, mich bei so einem Seelenklempner auszuweinen, schreibe ich artig die Adresse auf, die mir Frau Schmitz diktiert.
Ich weiß, dass ich alleine nicht weiterkomme, und melde mich tatsächlich sofort bei der Therapeutin. Frau Mitwitz gibt mir relativ kurzfristig einen Termin, obwohl man bei ihr sonst sehr lange Wartezeiten hat, wie sie mir am Telefon erklärt. Als müsste ich dankbar sein für ihr Entgegenkommen. So fühle ich mich aber nicht. Eher mickrig und eingeschüchtert, als ich wenige Tage später in einem feudalen Altbau-Treppenhaus vor ihrer Tür stehe. Wie eine kleine Fliege im Netz der dicken Spinne. Schon wieder mache ich kleine Fliege etwas, was ich gar nicht will. Und die dicke Spinne hinter der schweren Holztür bestimmt, was gemacht wird. Ich hasse dieses Gefühl!
Aber da muss ich nun wohl durch. Wie sollte ich das sonst Frau Schmitz vom Weißen Ring erklären, wenn ich ihren Rat nicht annehme? Dann denkt sie womöglich, ich sei undankbar und hätte es gar nicht verdient, dass man sich um mich sorgt. Und wenn ich noch mal Hilfe brauche, kümmert sie sich nicht mehr darum. Und immerhin versucht sie ja, mir zu helfen … Tief durchatmen!
Ich drücke die Klingel und höre unmittelbar schwere Schritte auf der anderen Seite der Tür. Mir öffnet eine Frau, die original so aussieht, wie ich mir eine Psychologin vorstelle. Ein wenig alternativ, oberlehrerinnenhaft, nicht gerade sympathisch. Sie führt mich in ein Zimmer, in dem eine kleine Topfpflanze um ihr Überleben kämpft. So eine arme Alibi-Pflanze, die den kargen Raum gemütlicher machen soll. Ansonsten sehe ich einen modernen Büro-Schreibtisch und zwei billige Pressholz-Regale, vor denen zwei Sessel stehen. Sehr zweckmäßig. Mit einer Handbewegung zeigt meine Psychologin, auf welchen Sessel ich mich setzen soll, und nimmt selbst gegenüber Platz.
»Na, was hat Sie zu mir geführt? Wenn ich mich richtig erinnere, kommen Sie über den Weißen Ring«, beginnt sie unser Gespräch. Ich nicke. Meine Kehle schnürt sich zu. Es fällt mir ja eh schon schwer, über mich zu reden; aber mit einer Frau, die mir dermaßen unsympathisch ist, geht es gar nicht. Ich versuche, dieses Gefühl hinunterzuschlucken, und erzähle. Von meiner Kindheit, meinem Stiefvater, dem Missbrauch, der Anzeige. Möglichst in chronologischer Reihenfolge. Zwischendurch stellt Frau Mitwitz mir Fragen: »Und wie alt waren Sie da?« Und dann kritzelt sie ihre Notizen in eine A4-Kladde, die sie auf dem Schoß hält. Als ich zwischendurch einmal weinen muss, greift sie routinemäßig nach einer Kleenex-Packung, die im Regal hinter ihr steht. »Und haben Sie sich körperlich gewehrt?«, will sie nun wissen. Wie ich diese Frage hasse! Aber ich lasse es mir nicht anmerken und antworte brav, dass ich mich nicht getraut habe. Meine zweitverhassteste Frage folgt kurz darauf: »Haben Sie nie jemandem davon erzählt?« Ich fühle mich schrecklich. Frau Mitwitz schaut kurz auf. »Verstehen Sie das nicht falsch, das ist nur für mein Verständnis der Situation.« Schon klar. Nachdem ich ihr 45 Minuten lang aus meinem Leben erzählt habe, geht es mir richtig dreckig. Frau Mitwitz
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