Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
nur helfen. Ich fühle mich so abgelehnt und ausgeschlossen.« Ich schaue sie an. Kerry hat ihre Stirn in Falten gelegt und presst ihre Lippen zusammen. Das ist das Kerry-in-Sorge-Gesicht, das kenne ich. Ich kenne sie so gut, meine Freundin. Und schließlich sage ich: »Mein Stiefvater hat früher schlimme Sachen mit mir gemacht. Jetzt musste ich das anzeigen. Und diese ganzen Vernehmungen und das alles machen mich total fertig.« Mehr nicht. Mehr kann ich ihr nicht sagen. Kerry sieht mich entsetzt an. Ich erkenne den Schmerz in ihren Augen und bereue sofort, etwas gesagt zu haben. Sie legt mir ihre Hand auf mein Bein und es fühlt sich gut an. Kerry darf mich anfassen.
»Das ist schrecklich!«, sagt sie leise. Und ich bin dankbar, dass sie nicht weiterfragt. Allerdings behandelt sie mich den ganzen Nachmittag wie ein rohes Ei: »Ist dir das recht?«, »Hast du da auch Lust drauf?«, »Nur, wenn du willst …«
»Mann, Kerry, es ist alles in Ordnung!«, sage ich lachend. Und den restlichen Nachmittag haben wir einfach Spaß. Jubeln mit den Fans, feiern und sind ausgelassen. Erst bei der Verabschiedung fängt Kerry wieder damit an. »Ruf mich an, wenn es dir nicht gut geht«, bittet sie. Und ich bereue wirklich, dass ich es ihr gesagt habe. Sie soll sich doch nicht ständig Sorgen machen!
Macht sie aber. Mehrmals am Tag ruft sie an, schickt SMS, die von Nachricht zu Nachricht panischer klingen, wenn ich sie nicht umgehend beantworte. Sobald ich mal nicht gut drauf bin, schiebt sie es sofort auf den Prozess: »Hattest du einen schlechten Termin?«, will sie dann wissen.
»Kerry, ich habe auch einfach mal so schlechte Laune«, antworte ich einmal schon etwas genervt, worauf meine Freundin leicht gekränkt reagiert und es mir sofort leidtut. Das ist aber auch schwierig. Ich will sie eigentlich nicht so teilhaben lassen. Das erzähle ich auch meinen virtuellen Forums-Freundinnen.
»Mit meiner Freundin. Ich finde es so schwierig. Sie weiß ja schon so ein bisschen was. Aber ich möchte sie damit auch wirklich nicht belasten. Finde eigentlich eher, dass sie schon zu viel weiß und sich oft zu viele Gedanken macht. Das ist mir echt unangenehm. Und mitunter wäre es mir einfach lieber, wenn sie nichts wüsste – das würde es manchmal unbeschwerter machen. So ist sie immer gleich in Sorge oder alarmiert, wenn ich mal nicht so gut drauf bin. Und jeder hat ja mal einen schlechten Tag … Aber ich weiß, dass ich jederzeit zu ihr kommen könnte und sie alles Mögliche tun würde. Das ist auch ein gutes Gefühl und bin ihr dafür sehr dankbar!«
Eintrag in ein Missbrauchs-Forum, 15. November 2011, 10:10 Uhr
Und dann steht der Termin bei der Staatsanwaltschaft an. Diesmal erzähle ich Kerry davon und verspreche, mich sofort danach bei ihr zu melden. Komischerweise fühle ich mich deshalb ein kleines bisschen weniger allein, als ich das angegebene Büro suche. Schüchtern klopfe ich an und fühle mich schlagartig unendlich klein, als ich auf dem Ledersessel – umgeben von prall gefüllten Bücherregalen – Platz nehme. Neben mir stehen zwei Umzugskartons. Der ordentliche ältere Herr im Anzug folgt meinem Blick und erklärt: »Die Umzugskartons sind prall gefüllt mit Briefen, die irgendwelche Frauen einem verurteilten Mörder und Frauenschänder in die JVA geschickt haben. Das ist ein verrücktes Phänomen!« Dabei schüttelt er den Kopf. Ich schaue mir noch einmal die Kartons an – das ist wirklich verrückt. Menschen sind komisch.
Nach einem kurzen Vorgespräch kommt der Staatsanwalt dann aber schnell zur Sache. Viel detaillierter als bei der Polizei und mit einem sachlichen, unbeteiligten Ton erfragt er, was früher bei mir los war: »Können Sie sich erinnern, wie oft Übergriffe stattgefunden haben?«
Ich sehe ihn erstaunt an: »Meinen Sie, dass ich mitgezählt habe?« Auf diese Provokation reagiert er gar nicht und schaut mich nur abwartend an. Also antworte ich: »Anfangs nicht so oft. Später schon. Manchmal jeden Tag. Manchmal ein paar Tage nicht.«
»Hat er körperliche Gewalt angewendet?«
»Nicht immer. Aber er hat mich regelmäßig daran erinnert, was meiner Mutter passieren könne.«
»Hätten Sie ihm eine solche Tat zugetraut?«
Diese Frage macht mich schon wieder wütend. »Klar, er hat mir keinen Grund gegeben, das nicht zu glauben.«
»Hatten Sie jemals Angst, er würde Sie umbringen?«
Nun kann ich nur noch nicken, weil der Kampf gegen die aufsteigenden Tränen meine Stimme erstickt. Der
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