Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Staatsanwalt wartet einfach ab, bis ich wieder reden kann: »Es ist halt, als wenn man gleich stirbt. Wobei ich mir oft gewünscht hab, dass es dann bitte auch schnell passieren soll und dieser Kampf aufhört. Irgendwann dachte ich mal, dass es nun endlich so weit ist und er es geschafft hat. Aber ich war nur kurz ohnmächtig.«
Der Staatsanwalt nickt. Keine Spur von Mitleid. Zack, die nächste Frage: »Wissen Sie, ob er noch andere Frauen oder Mädchen missbraucht hat?«
Auch diese Frage regt mich auf: »Ich kann es mir nicht vorstellen. Wozu auch? Er hat doch schon alles bekommen, was er wollte.«
Mein Gegenüber ignoriert meinen patzigen Ton. Er lässt sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. »Haben manchmal Freundinnen bei Ihnen übernachtet?«
»Auf gar keinen Fall!« Was für eine Vorstellung! Ich hatte viel zu viel Angst, mein Stiefvater könnte auf böse Gedanken kommen. Und dann wird es richtig unangenehm. Der Staatsanwalt will wissen, wie der Missbrauch durchgeführt wurde. Ich presse die Lippen aufeinander.
»Ist es vor deinem 14. Geburtstag zur vaginalen Penetration gekommen?« Ich nicke. Obwohl ich mich scheußlich fühle, bohrt er weiter und weiter und weiter, bis aus mir herausplatzt: »Verdammt, ja. Ich hab ihn dauernd mit dem Mund befriedigt. Geht ja super zwischendurch und Spuren hinterlässt es auch nicht. Also einfach toll. Und nein, um gleich die nächste Frage vorwegzunehmen, auch dabei hat er kein Kondom benutzt und Spaß hat es mir auch nicht gemacht. Und jetzt lassen Sie mich bitte einfach nur noch in Ruhe. Das geht Sie alles doch überhaupt nichts an.« Ich ekele mich. Der ganze Termin ekelt mich. Was soll das? Warum werde ich immer und immer wieder gequält? Ich bin doch das Opfer, sagen alle. Warum benehmen sie sich nicht so?
Als der Staatsanwalt irgendwann endlich von mir ablässt, bin ich wie benommen. Auf wackeligen Beinen torkele ich zum Auto und schreibe Kerry die versprochene SMS:
»Im Moment geht es mir nicht unbedingt gut. War fünfeinhalb Stunden da und sitze gerade erst im Auto.«
SMS vom 21. November 2011, 16 Uhr
7. Mutter
»Viele Mütter decken den Täter, weil das für sie einfacher ist, als sich mit dem eigenen Schicksal auseinanderzusetzen. Sie verraten ihre Kinder, weil sie sich vom Täter oft so stark abhängig fühlen, dass sie Angst haben, aus dieser Abhängigkeit herauszufallen. Diese Frauen sind Mittäterinnen aus Angst, alleine nicht überleben zu können.«
Christian Luedke, Psychotherapeut
D ie Prozess-Lawine reißt mich weiter und weiter mit, sie lässt mich nicht verschnaufen, geschweige denn auf die Füße kommen. Ständig habe ich neue Termine beim Staats- oder Rechtsanwalt. Kerry bemüht sich, mich aufzuheitern, wann immer es geht. An meinem Geburtstag am 12. Dezember steht sie sogar überraschend mit einer selbst gebackenen Torte im Stall. Sie strahlt. »Keine Backmischung!«
Weil ich genau weiß, wie ungern sie backt, freue ich mich umso mehr darüber. Trotzdem geht es mir an meinem Geburtstag besonders schlecht. Als ob Kerry meine Gedanken lesen könnte, fragt sie: »Sie hat sich nicht gemeldet, oder?« Ich schüttele den Kopf. Seit dem Morgen habe ich mein Handy nicht aus den Augen gelassen und bei jedem SMS-Piepen darauf gehofft, dass sie mir gratulieren würde. Aber nichts! Meine Mutter meldet sich nicht. Und ich selbst traue mich nicht, sie anzurufen. Ich habe Angst vor der Reaktion auf die Festnahme ihres Scheißehemannes. Kerry streichelt mir hilflos über den Rücken. Und ich bin beinahe froh, als sie irgendwann geht. Für mich ist mein Geburtstag kein Tag zum Feiern mehr.
Am Abend bin ich dann richtig deprimiert. Weil ich Kerry gegenüber ein schlechtes Gewissen habe und weil ich ständig an meine Mutter denken muss. Ich verstehe das nicht: Mein Geburtstag sollte doch auch für sie ein besonderer Tag sein. Immerhin hat sie mich vor 22 Jahren zur Welt gebracht, mich im Arm gehalten, mich angestaunt … Was für eine absurde Vorstellung ist das jetzt! Trotzdem glaube ich, dass dieser Tag doch auch eine Mutter nicht kaltlassen kann.
Schon im Bett liegend fasse ich den Entschluss, meine Mutter an Weihnachten zu besuchen. Allein bei der Vorstellung rast mein Herz. Am liebsten würde ich die Zeit vorspulen, weil ich es kaum abwarten kann. Denn ein kleiner Funken Hoffnung keimt in mir auf, dass sie ohne ihren Mann vielleicht doch entdeckt, was wir aneinander haben. Wir sind eine Familie! Eine kleine Familie. Zumindest ein Familien-Rest.
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