Ich werde immer da sein, wo du auch bist
braunen, blonden und orangenen Haarsträhnen mischen sich jetzt auch blaue. Ich glaube, sie will gar nicht hübsch sein.
Aber sie reagiert nicht darauf, sondern zeigt mit dem Kopf auf Ms Haas und formt mit den Lippen ein lautloses
Viel Glück.
Dann schwebt sie geräuschlos durch den Flur davon.
Ich warte in der Türöffnung darauf, dass Ms Haas mich bemerkt. Sie ist ziemlich alt und ziemlich dick, aber nicht unangenehm dick. Ihre grauen Haare hat sie im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt, und an den Ohren baumeln lila Federohrringe.
Sie sieht mich an und sagt: »Du musst Caitlin sein. Komm rein.«
Ms Haas ist die Schultherapeutin. Obwohl ich schon mehrmals dazu aufgefordert wurde, bin ich jetzt zum ersten Mal in ihrem Büro. Es ist klein und krampfhaft gemütlich eingerichtet. Den Boden bedeckt ein knallgelber Teppich, und alle Sessel sind groß und dick gepolstert. An den Wänden hängen Bilder von Bäumen und Sonnenuntergängen und anderen harmlosen Dingen. Ich könnte schwören, dass eins der Fotos von Ansel Adams ist – unter einem hohen, mächtigen Baum steht der Titel
Sky is the limit
. Zum Kotzen.
Ich setzte mich auf den Sessel, der am weitesten von Ms Haas’ Schreibtisch entfernt ist, und versuche, nicht zu tief darin zu versinken.
Sie stellt sich vor und erzählt von der »wundervollen Hilfe«, die sie hier anbietet. Ich versuche, sie zu überhören. Als sie fertig ist, fragt sie: »Weißt du, warum du hier bist?«
»Ja.«
Sie strahlt. »Super. Warum?«
»Weil Ms Delani keine Ahnung hat, wie sie sich verhalten soll und überhaupt nicht kommunizieren kann.«
Ms Haas lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und faltet die Hände. Ich bewege meinen Fuß über den gelben Teppich, mache das Gelbe dunkler, dann heller, dann wieder dunkler. Ich warte auf eine Antwort von Ms Haas.
Schließlich sagt sie: »Ich habe gehört, dass du mit Ingrid Bauer eng befreundet warst.«
Mein Magen verkrampft sich. Ich halte meinen Fuß still und zucke mit den Schultern.
»Vielleicht möchtest du mal mit mir über sie reden.«
Sie wartet, und als ich nichts sage, fährt sie fort: »Vielleicht möchtest du mir erzählen, wie du dich gefühlt hast, wenn du mit ihr zusammen warst? Was war an eurer Freundschaft so besonders?«
Ich versuche, mich aufrechter hinzusetzen, aber der Sessel ist zu weich. »Ich verstehe Ihre Frage nicht. Ich weiß nicht, was Sie hören wollen.«
»Okay«, sagt sie mit geduldiger Stimme. »Ich sage dir, was ich vorhabe. Ich würde dir gern helfen, deine Schuldgefühle oder deine Wut oder Trauer zu äußern und mit dir daran zu arbeiten, dass du diese Gefühle verstehen lernst. Jetzt« – sie beugt sich zu mir vor – »sag du mir, was
du
möchtest.«
Ich sehe vom Teppich hoch in ihr Gesicht.
Sie lächelt mich superlieb an.
»Ich möchte am liebsten zurück in die Klasse gehen.«
26
Ich verlasse das Büro und die Schule und gehe auf Nebenstraßen nach Hause, damit mich niemand erwischt. Obwohl niemand da ist, schließe ich meine Zimmertür. Ich öffne das Innenfach meines Rucksacks und hole Ingrids Tagebuch heraus. Dann setze ich mich auf den Stuhl in der Ecke beim Fenster. Ich schlage die nächste Eintragung auf und hoffe, dass Ingrid nicht wieder so kindisch von Ms Delani schwärmt.
Lieber Jayson,
heute war ich lange mit Caitlin draußen. Wir lagen in ihrem Garten im Gras, und ich sah zum Himmel hoch und wünschte mir so sehr, ich könnte ihr von dir erzählen, aber ich habe gemerkt, dass sie sauer wird, wenn ich damit anfange. Keine Ahnung warum, sie hatte nichts besonders Dringendes mit mir zu besprechen oder so. Manchmal wünsche ich mir, dass sie sich endlich auch mal verliebt, damit ich mir nicht so blöd vorkomme, wenn ich über deine Arme deine Hände dein Gesicht deinen Nacken deine Stimme deinen Mund reden will. Ich halte es kaum noch aus, wenn ich in Bio neben dir sitze. Meine Haut brennt, wenn du so nahe bist. Mein ganzes Leben wartet nur darauf, dass du endlich den ersten Schritt machst. Ich möchte, dass du mich berührst. Ich will, dass du mich ausziehst. Wenn ES geschieht, dann soll es so weh tun, dass es mich wieder ganz macht. Es soll stundenlang dauern, und hinterher wäre ich wieder ein ganzer Mensch. Nicht krank. Nicht verrückt. Es wäre von Dauer.
Jayson, wenn du in meinen Kopf kucken könntest, würdest du mich dann für verrückt halten? Alles ist so chaotisch und verkorkst. Jedes Mal, wenn ich etwas richtig machen will, geht es schief. Würde dich das
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