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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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gesehen, den du zum Trocknen aufgehängt hattest. Das Foto ist ausgezeichnet, Caitlin. Nicht nur technisch beeindruckend – wie du das Haus in der Dunkelheit abgebildet hast, ohne Einzelheiten preiszugeben –, es erzählt auch eine Geschichte. Mitten in der Nacht brennen zwei Lichter im Haus. In einem Fenster sieht man eine Frauensilhouette. Das macht neugierig: Was geschieht in diesem Haus, warum schläft die Frau nicht, wer hat das Foto gemacht, warum ist diese Person nicht im Haus …? Warte mal«, sagt sie und geht in ihr Büro. Als sie wiederkommt, trägt sie einen großen Rahmen. Ich sehe nur die Rückseite.
    »Ich weiß nicht, ob Ingrid es dir erzählt hat, aber ich hatte sie überredet, an einem nationalen Schülerwettbewerb teilzunehmen. Das war wenige Wochen, bevor sie sich das Leben nahm.«
    »Nein. Das hab ich nicht gewusst.« Bitterkeit durchströmt mich wegen all der Dinge, die Ingrid vor mir geheim gehalten hat.
    »Sie hatte irgendwo gehört, dass Porträts bei den Juroren nicht so gut ankommen, deshalb hat sie zuerst diesen tollen Schnappschuss von dem Hügel eingereicht. Ich finde es nicht ihr stärkstes Foto, aber ich mag es. Na egal, am Tag vor dem Einsendeschluss änderte sie ihre Meinung und brachte mir das hier.«
    Ms Delani hebt die Fotografie hoch und dreht mir die Vorderseite zu. Es ist ein großer Schwarzweiß-Abzug von mir in meinem Zimmer. Die Beleuchtung ist ziemlich dramatisch, fast überall herrscht Dämmerlicht – der Schein der Stehlampe fällt hauptsächlich auf mich, wie ich in der Ecke sitze. Um mich herum sieht man die Zeitungsausschnitte an der Wand, die Bücher und CD s und Klamotten über den Boden verstreut. Meine Tagesdecke ist zerwühlt, auf der Kommode stapeln sich Zeitschriften und Kleidungsstücke. Ich starre in die Kamera, als wollte ich sagen:
Glotzt nicht so
.
    Ich betrachte mein Gesicht auf dem Foto genauer. Ist es möglich, dass ich mal so ausdrucksvoll ausgesehen habe?
    »Hier«, Ms Delani gibt mir eine Urkunde. »Sie hat gewonnen.«
    Auf der Urkunde steht:
Erster Preis
, Caitlin in ihrem Zimmer,
von Ingrid Bauer
.
    »Ich habe so viele Fotos von dir, Fotos, die ich immer behalten werde. Manche sind wie das hier. Du bist hier sehr selbstbewusst, du weißt genau, dass du beobachtet wirst, aber auf anderen Fotos bist du ganz anders. Du beugst dich über einen Schreibtisch, du liest oder drehst ihr beim Gehen den Rücken zu, oder du lachst über irgendetwas. Oder du bist in Gedanken verloren. Es gibt sogar Fotos, auf denen du schläfst. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wie sehr du sie inspiriert hast. Alle diese Bilder, die sie von dir gemacht hat … sie füllen eine ganze Schublade in meinem Büro.«
    Ich versuche, ihre Worte zu begreifen. Ich weiß, dass Ingrid mich oft fotografiert hat, aber sie hat ununterbrochen alles fotografiert. Ms Delani sagt: »Ihr Suizid hat mich zutiefst erschüttert. Ich sehe heute vieles ganz anders, auch meine Arbeit mit euch.« Sie seufzt. »Wie soll ich das erklären?«, murmelt sie. »Was habt ihr zwei damals geschrieben …« Sie setzt sich auf ihren Stuhl, nimmt die Brille ab und legt sie auf den Tisch.
»Stell dir vor, wie Ms Delani saure Milch in den Ausguss gießt. Stell sie dir bei einer ärztlichen Untersuchung vor. Wie sie das Katzenklo leert.«
    Mir wird der Hals eng, aber sie lächelt.
    »Ich hab einen von euren Zetteln gefunden. Ich hatte mich immer gefragt, was ihr zwei euch so eifrig geschrieben habt.«
    »Entschuldigung. Das war dumm von uns. Sie erschienen uns immer so vollkommen.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Mal im Ernst: Ich mache
alle diese Dinge
. Alles, was auf eurer Liste stand, mache ich. Ich weiß nicht, wie viele Listen ihr angefertigt oder was ihr alles geschrieben habt, aber wahrscheinlich sind das alles Dinge, die ich tue.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher. Wir haben uns eine Menge ausgedacht.«
    »Na ja, vielleicht nicht alles, aber ich bin ganz und gar nicht vollkommen. Ingrids Tod sollte der beste Beweis dafür sein. Abgesehen von ihren Eltern war ich wahrscheinlich die Erwachsene, die ihr am nächsten stand. Ich war so beeindruckt von ihrem Talent, dass ich den großen Schmerz hinter ihren Arbeiten nicht wahrgenommen habe. Sie gab mir Hunderte von Fotos, so viele Möglichkeiten, ihre Not zu erkennen. Ich habe sie im Stich gelassen.«
    Ich möchte Ms Delani sagen, dass sie
mich
auch im Stich gelassen hat. Ich denke an den ersten Schultag von diesem Schuljahr – ich war mir so sicher, dass

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