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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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sie mir helfen würde, dass sie mich so wie früher behandeln würde.
    »Ich hätte Sie in diesem Jahr auch gebraucht.« Mein Gesicht brennt.
    »Ja. Ich weiß. Es tut mir leid.«
    Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, und eine Zeitlang schweigen wir beide.
    Schließlich redet sie weiter. »Ich wusste, wenn du die Hand nach mir ausstreckst und ich sie ergreife, wäre ich für dich verantwortlich. Deshalb wäre es mir lieber gewesen, wenn du nicht in meinen Kurs gekommen wärst. Es ist ungerecht, aber dein Bild ist völlig mit meinen Erinnerungen an Ingrid verwoben. Als ich von Ingrids Tod hörte, habe ich stundenlang ihre Fotos betrachtet, und ich habe nur Bilder von dir gesehen.«
    Sie bricht ab und wartet, ob ich etwas sage, aber ich kann das alles noch gar nicht richtig begreifen, ich kann nur auf das Foto vor mir blicken. Noch nie habe ich mich so intensiv betrachtet, mich, wie ich da in meinem Zimmer sitze.
    »Du hast gar keine Vorstellung, was für ein komplexes Thema du für sie warst. Sie hat Fotos von dir gemacht, die große Gefühle auslösen: Liebe, Wut, Freude … die volle Bandbreite menschlicher Gefühle.«
    Sie reicht mir ein anderes Foto. »Das ist eins meiner Lieblingsbilder.«
    Regentropfen. Lichtflecke zwischen den Wolken. Ich schaukele in den Himmel und lache. Lache. Ich hab nicht gewusst, dass sie es entwickelt hat.
    Und dann schießen mir Tränen in die Augen. Ich schaukele. Zum ersten Mal habe ich die Schule geschwänzt und fliege durch den Himmel, während die Wolken aufbrechen. Ich höre den Wind. Ich höre mich lachen.
    Ingrid
, schreie ich.
Ich habe zum ersten Mal ein Gesetz gebrochen!
    Ihre Stimme:
Und wie fühlt sich das an?
    Regen fällt.
Wunderbar!
    Vor dem Klassenraum rumort es. Gleich kommen die Schüler zur ersten Stunde, aber ich bin noch nicht so weit. Ich reiße mich von dem Foto los und sehe stattdessen ein Foto, auf dem ich Grimassen schneide, und ich schaue weg. Ich konzentriere mich aufs Schaukeln. Aufs Lächeln. Ich halte es behutsam fest. Ich brauche noch ein paar Minuten, um all das zu verdauen.
    Ms Delani legt mir die Hand auf die Schulter. »Die Fotos bringen sie ein bisschen zurück, nicht?«
    Ich will die Augen zukneifen, aber ich kann es nicht, weil die Tür aufgeht.
    Bevor die anderen reinströmen, sagt sie: »Sie bringen
dich
auch ein bisschen zurück.«
    Ms Delani erlaubt mir, während der ersten Stunde allein in ihrem Büro zu bleiben. Ich blättere in ihren dicken Bildbänden und suche nach einer Eingebung. Ich muss viel nachholen, wenn ich den Kurs erfolgreich abschließen will. Ich höre sie im Klassenraum dozieren, dann Stimmengemurmel, und ich bin dankbar, dass ich hier sein darf, weit weg von allem. Ich denke an gar nichts, blättere nur Seiten um, betrachte Fotos und versuche, zur Ruhe zu kommen.

18
    Mom ist heute schon früher zu Hause. Ich liege auf dem Bett und mache Mathe, als sie anklopft und in mein Zimmer späht.
    »Hi, Süße. Ich muss noch ein paar Besorgungen machen. Willst du mitkommen?«
    »Was für Besorgungen?«
    »Reinigung, Baumarkt, Supermarkt. Du könntest dir was zum Mittagessen aussuchen …«
    Ich brauche jede Menge Sachen für mein Baumhaus: Noch mehr Schlüsselschrauben, Schleifpapier, Schraubzwingen. »Ja, okay.«
    Als wir zum Baumarkt kommen, geht meine Mutter in die Gartenabteilung.
    Ich nehme einen Plastikkorb und lege ein paar Dinge rein, die ich brauche. Dann fällt mir wieder das Problem mit dem sechsten Stützbalken ein. Ich gehe zu der Abteilung mit Seilen und Stricken. Die Auswahl ist überwältigend, es gibt Seile in allen Stärken, Metallseile, Hanfseile.
    Ich stehe ratlos davor, als ein Verkäufer kommt und bei mir stehen bleibt.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich weiß nicht, welche Sorte Seil ich brauche.«
    »Was haben Sie denn vor?«
    »Es muss das Gewicht von einem Menschen aushalten.«
    »Wie schwer?«
    »Es soll mich aushalten.«
    Er sucht mit den Blicken die Regale ab. »Das hier müsste das können«, sagt er und greift nach einer Rolle mit einem mittelstarken, gelben Seil.
    »Soll ich es selbst abschneiden?«, frage ich, aber er antwortet nicht.
    Er sieht etwas hinter mir an. Ich drehe mich um, und meine Mutter steht direkt hinter mir, die Hand auf dem Mund, leichenblass.
    »Was ist denn?«, frage ich.
    Der Verkäufer tritt unsicher zurück.
    »Was ist denn?«, frage ich wieder.
    Dann folge ich ihrem Blick zu meinen Händen, zu dem Seil. Und blitzartig fällt mir wieder ein, wie ich das an dem Morgen damals

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