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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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von Ingrid erfahren habe. Ich habe mich gefragt, wie sie es getan hat. Mit der Pistole, die ihr Vater im Safe aufbewahrte, mit den Küchenmessern, den Tabletten im Apothekenschränkchen von ihrer Mutter. Mit einem Seil.
    »Mom, du denkst doch nicht, ich …«
    Ihre Hände zittern.
    »Mom, ich würde niemals …«
    »Aber du bist so wütend.« Ihre Stimme zittert auch. »Du willst keinen Therapeuten sehen. Du erzählst uns nie, wie es dir geht. Ich versuche, mit dir zu reden, aber du stößt mich immer weg. Ich mache mir in jeder einzelnen Sekunde Sorgen um dich.«
    »Mom, ich würde das nie tun.«
    Und dann in dem engen Gang in einem Baumarkt zwischen Millionen von Seilen und Schrauben und Haken und Schläuchen und Angelschnüren und winzigen Glühbirnen und Blumensamen mache ich einen Schritt nach vorn und nehme zum ersten Mal seit Monaten meine Mutter in die Arme. Ihre Hände krallen sich hinten in mein Shirt, und ich fühle, wie sich ihre Brust hebt und senkt, während sie gegen das Weinen ankämpft. Plötzlich fühlt sie sich so klein an, so zerbrechlich. Ohne nachzudenken, flüstere ich: »Mir geht es gut, alles okay, alles in Ordnung«, immer wieder, bis sie regelmäßig atmet, bis sie loslässt und einen Schritt zurück macht, mit der Hand mein Kinn hebt und sagt: »Versprich es mir.«
    »Mir geht es gut«, sage ich. »Das versprech ich dir.«

19
    Als wir nach Hause kommen, ist Dad in seinem Arbeitszimmer. Ich fordere ihn und Mom auf, mit mir rauszukommen. Wir laufen an meinem traurigen kleinen Auto vorbei, durch ihren Gemüsegarten, über den Hügel um ein paar kleinere Bäume herum und hinunter bis zu meiner Eiche. Sie sieht wunderschön aus im Sonnenschein.
    »Das ist das, woran ich gearbeitet habe.«
    Die Leiter am Stamm sieht gerade und sicher aus, die Balken, die ich anbringen konnte, reichen zwei Meter vom Stamm weg und werden von solide aussehenden Balken gestützt.
    »Da muss noch einer hin. Danach kann ich die Bodenbretter befestigen. Den Balken konnte ich bis jetzt noch nicht anbringen.« Ich wende mich Mom zu. »Dafür habe ich das Seil gebraucht«, sage ich leise.
    Mom drückt meine Hand.
    Dad schnalzt beifällig mit der Zunge. »Ein Baumhaus! Phantastisch. Als ich klein war, habe ich mir immer ein Baumhaus gewünscht.«
    »Baumhäuser sind aber nicht nur für Kinder. Ich hab dies Buch hier entdeckt.« Ich klappe meinen Werkzeugkasten auf, hole das Baumhaus-Buch heraus und gebe es ihnen. »Seht ihr?«
    Mom schaut zu, wie Dad in dem Buch blättert. Er betrachtet die kunstvollen Baumhäuser mit Küchen und Schlafzimmern; Badezimmer mit Badewannen auf Löwenfüßen und edlen Waschbecken, Wohnzimmer mit Kaminen und Sofas und Teppichen.
    Er hält bei einer Seite mit einem schlichteren Baumhaus inne. Es ist ziemlich groß und rustikal und hat keine Elektrizität oder anderen Schnickschnack. Zwei Brüder haben es gebaut, die an manchen Tagen einfach dort oben sitzen und über den Fluss blicken wollten.
    »Deins ist ähnlich wie das hier, aber du hast deinen eigenen Stil. Mir gefällt, dass du es um den Stamm herum baust.«
    »Ich fand das cool.«
    »Es ist wunderschön«, flüstert Mom.
    »Das wird toll«, sagt Dad.
    Sie sehen so stolz aus. Ich wünschte, ich könnte ihre Gesichter fotografieren.

Frühling

1
    Morgens ist es jetzt schon wärmer. Die Blumen blühen nach und nach auf, und das Gemüse sprießt. Ich gehe an den ordentlichen Beeten vorbei und über den Hügel hinunter zu meiner Eiche. Ich klettere hoch und denke daran, dass ich bald mit Taylor reden werde. Ich kann mich nicht ewig vor ihm verstecken. Und das will ich auch gar nicht.
    Ich klettere höher und hänge mich in die Seilschaukel, die ich mit Hilfe meiner Eltern an einem dicken Ast aufgehängt habe. Nachdem ich gestern bei Dylan war, habe ich alle übrigen Bretter auf den Teil des Bodens gehievt, den ich schon gebaut hatte, deshalb habe ich es jetzt leichter mit dem Sägen und Hämmern und muss nicht mehr hundertmal rauf- und runterklettern.
    Ich arbeite drei Stunden und denke an gar nichts, verliere mich in den Morgengeräuschen: Vögel und der Wind in den Blättern und mein Hammer auf Holz und Metall. Mit dem Boden bin ich jetzt fertig. Ich stelle mich vorsichtig darauf, um zu prüfen, wie sicher er ist. Nachdem ich mich überzeugt habe, dass er mich trägt, gehe ich von der einen Seite zur anderen und zurück – sechs Meter im Durchmesser.
    Ich stampfe. Ich hüpfe.
    Die Bretter unter mir sind stabil.

2
    Vor der ersten

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