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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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wechseln Blicke. Ich fahre mit dem Finger über die Ränder des Türknaufs. »Ich möchte zu Hause bleiben und mein Baumhaus fertigbauen.«
    Ich sehe auf den Küchenfußboden und scharre mit dem Fuß über die blauen Fliesen. Ich weiß, dass meine Eltern schweigend miteinander kommunizieren.
    »Was ist mit deinen Hausaufgaben?«, fragt Dad.
    »Du könntest sie dir von Dylan besorgen«, schlägt Mom vor.
    Ich nicke.
    »Dann geht das in Ordnung«, sagt Dad.
    »Aber nur heute«, setzt Mom hinzu.
    »Danke.« Ich schlurfe wieder nach oben.
    Nachdem meine Eltern gegangen sind, gehe ich wieder runter in die Küche und mach mir ein Müsli. Ich setze mich an den Tisch, wo Dad seinen Zeitungsstapel liegen gelassen hat. Auf der Titelseite des
San Francisco Chronicle
sind Kriegsfotos – eine schreiende Frau, eine ausgebombte Stadt, irgendwo weit weg. Auf der Suche nach harmloseren Nachrichten durchforste ich den Stapel nach der
Los Cerros Tribune
.
    Ich finde die Zeitung, esse einen Löffel Müsli und überfliege die Schlagzeilen: Plan für neuen Golfplatz genehmigt, Hund aus Los Cerros gewinnt nationalen Schönheitswettbewerb, Datum für Abriss festgesetzt.
    Ich lege die Zeitung beiseite und gieße mir eine Tasse Kaffee ein. Ich weiß schon, was abgerissen werden soll, aber ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln.
    Ich trinke einen Schluck und schütte den Rest in den Ausguss.
    Ich geh zum Tisch zurück, nehme allen Mut zusammen und lese.
    Nach monatelangen Diskussionen über das seit langem geschlossene Parkside-Kino zwischen der Cherry Ave. und der Magnolia Ave. im Westen von Los Cerros hat der Grundstücksbesitzer im Einvernehmen mit einem privaten Bauunternehmer den Abrisstermin auf den 25 . Juni dieses Jahres festgesetzt […]

13
    Um zehn Uhr bin ich beim Baumhaus. Meine Arme und Beine sind schwer und müde, aber ich zwinge mich zur Arbeit. Um zwei Uhr bin ich mit der vierten Wand fertig, aber die nächsten beiden gehen schneller. Während ich hämmere, muss ich unablässig an sie denken.
     
    Für die Beerdigung hatte ich eine Rede geschrieben. Ich war zu traurig und zu fertig, um irgendwas Gutes zustande zu bringen, aber ich wusste, ich hätte gewollt, dass Ingrid an meinem Grab etwas sagt. An Ingrids Trauerfeier stand ich oben auf dem Podium und legte das Blatt so hin, dass ich es lesen konnte, aber die Buchstaben ergaben keinen Sinn mehr. Ich konnte sie nicht lesen. Es gab einzelne Wörter: Freundin, Talent und erinnern, aber alles andere verschwamm vor meinen Augen. Ich weiß nicht, wie lange ich da oben stand, bis Davey zu mir kam.
Komm
, sagte er.
Du musst das nicht tun.
Und ich folgte ihm vom Podium runter zu meinen Eltern, weil das leichter war, als allein dort oben zu stehen.
     
    Ich lasse große Öffnungen in der Mitte der Wände. Was soll man mit einem Baumhaus, wenn es keinen Ausblick hat? Ich befestige lange Baumwollvorhänge über den Öffnungen und darunter Haken, um sie bei Regen und Wind festzuzurren.
     
    Als Ingrids Sarg damals auf dem Friedhof in das Grab herabgelassen wurde, konnte ich nicht hinsehen. Ich dachte, das wäre besser, aber es war schlimmer, weil Ingrids Mutter dieses furchtbare Geräusch von sich gab. Es war kein Schrei, und es war kein Schluchzen. Es war ein unbeschreiblicher Ton, der mir noch monatelang in den Ohren klang, während der ganzen Zeit, als meine Eltern mit mir in die Wälder geflüchtet waren.
     
    Als Dad von der Arbeit nach Hause kommt, bitte ich ihn um Hilfe. Er zieht einen Trainingsanzug an und kommt zum Baumhaus, um zu sehen, was ich brauche.
    »Was für ein Fortschritt!« Er klatscht in die Hände.
    Das Klatschen bleibt in der Luft hängen. Sonst ist es still. Er wartet darauf, dass ich ihm Anweisungen gebe, aber ich stehe bloß da und muss heulen.
    »Schätzchen«, sagt er. »Schätzchen.«
    Er wischt mir die Tränen und den Schnodder ab. Er macht das mit den Händen. So sehr liebt er mich.
    »Das Dach«, sage ich.
    »Was?« Er betrachtet mich nachdenklich, während er sich fragt, wieso ein Dach mich zum Weinen bringt.
    »Ich brauch Hilfe beim Dach.«
    Er blickt sich im Garten um. Dann geht er zu dem Stapel mit den langen Balken und hebt einen hoch. »Willst du nach oben klettern, und ich reich ihn dir hoch?«
     
    Als ich die Augen wieder aufmachte, hielt Ingrids Vater sich an seiner Frau fest. Er war völlig stumm, aber er zitterte am ganzen Leib.
     
    Dad sieht in seinem Trainingsanzug und den Turnschuhen etwas verloren aus und wartet auf eine
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