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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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hast du mir das nicht erzählt?«
    Streckt die Hand aus und berührt meinen Arm.
    Sie lässt die Hand da liegen, bis der Kellner mit unserer Suppe kommt und irritiert den Blick über den Tisch schweifen lässt, unsicher, wo er die riesigen Teller hinstellen soll, und da muss Dylan mich loslassen.
    Ich öffne meinen Rucksack und ziehe das Tagebuch mit dem halbabgeblätterten weißen Tipp-Ex-Vogel heraus. Ich reiche es ihr über den Dampf hinweg, der von unseren Suppen aufsteigt. Sie nimmt es und betrachtet den Einband. Ihre Hände zittern, aber ihre Hände zittern immer.
    Sie schlägt die erste Seite auf. Inzwischen kenne ich es so gut, dass ich wahrscheinlich alle Seiten auswendig kann. Sie betrachtet Ingrids Selbstporträt und liest, was sie darüber geschrieben hat:
Ich an einem Sonntagmorgen.
    Ich frage mich immer noch: Welcher Sonntag? Was habe ich getan, während sie das gezeichnet hat? Wo war ich, als sie beobachtet hat, wie der Tipp-Ex-Vogel getrocknet ist?
    Ich frage: »Und was ist mit dir?«
    Sie sieht mich fragend an.
    »Ich möchte wissen, was dir passiert ist. Ich weiß, dass da was gewesen ist.«
    Sie schaut wieder nach unten und blättert weiter.
    »Ein andermal.«
    »Wann?«
    »Später.«
    »Später heute Abend?«
    Sie antwortet nicht. Sie liest den letzten Eintrag. Während sie liest, zerreiße ich meine Papierserviette in lauter schmale Streifen.

17
    Später. Wir sind in meinem Zimmer.
    Dylan sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden, ihre Hände liegen mit den Handflächen nach oben im Schoß.
    »Ich hatte einen Bruder. Er hieß Danny. Kannst du dich an das Foto in meinem Zimmer erinnern? Das du so süß gefunden hast? Das war er.«
    Ich erinnere mich.
    »Als ich elf war und er drei, wurde er sehr krank.«
    Dylan hält inne. Sie starrt auf ihre Hände, schweigt so lange, bis ihr Atem wieder gleichmäßig geht. Sie hat ein Tanktop an, und ich sehe die Muskeln ihrer sehnigen Arme. Ihre Augen sind riesengroß und so grün wie noch nie.
    Als sie weiterredet, tut sie es so leise, dass ich sie kaum verstehe.
    »Wir haben es versucht. Wir haben alles getan, was möglich war. Am Ende war er zu schwach.«
    Ich kann sie nicht anschauen. Ich erinnere mich an das Foto auf ihrem Schreibtisch und dass ich sie danach gefragt habe, aber ich weiß nicht mehr, was genau ich gesagt habe. Habe ich nicht gemerkt, dass er ihr ähnlich sah? Habe ich mich nicht gefragt, warum sie nicht darauf geantwortet hat?
    »Dylan«, fange ich an. Ich weiß nicht, was ich sagen werde, aber ich muss etwas sagen. »Das war bestimmt …« Ich suche nach Worten, aber Dylan unterbricht mich mit einem Kopfschütteln.
    »Hinterher haben wir uns schrecklich allein gefühlt. Ich war mir sicher, dass meine Eltern nicht verstehen konnten, wie es mir ging, und meine Mutter dachte, mein Vater hätte keine Ahnung, wie sehr sie litt. Er ging einfach jeden Tag zur Arbeit. Mein Vater dachte, dass meine Mutter nicht die leiseste Ahnung hatte, was der Verlust seines Sohnes für ihn bedeutete. Sie mussten sich ein Jahr lang trennen, bevor jeder den Schmerz des anderen verstehen konnte.«
    Ich möchte ihre Hand nehmen, so wie sie vorhin meine. Ich strecke die Hand aus, aber sie weicht zurück, nur ein bisschen, aber ich merke, dass sie jetzt nicht getröstet werden will.
    Ich setze mich hin. »Erzähl mir drei Dinge über ihn.«
    Sie sieht mich überrascht an, doch dann sprudelt es aus ihr heraus.
    »Er hat schrecklich gern Tauben gejagt. Wenn er das Alphabet aufsagte, hat er immer B und D vertauscht. Er sagte immer: A-D-C-B-E-F-G.«
    Ich lächele und warte. Nach etwa einer Minute sage ich: »Noch was.«
    »Er hatte unglaublich starke Ärmchen. Er hat mich immer so fest umarmt, dass mir der Hals weh getan hat.«
    Es wird schnell dunkel. Dylan legt den Kopf in den Nacken. Ihr Gesicht schimmert bläulich.
    »Ich weiß, wie du dich fühlst. Glaub mir. Aber du bist nicht die Einzige, die wegen Ingrid leidet.«
    Sie sitzt noch eine Weile da, und ich warte darauf, dass sie noch etwas sagt, doch sie schweigt. Stattdessen nimmt sie mich in die Arme, ganz fest und ungeschickt, ihre Arme pressen meine an den Körper, so dass ich sie nicht auch umarmen kann.
    Ich bin total überrascht. Ich kriege keine Luft mehr. Sie lässt mich los und geht. Die Haustür schlägt hinter ihr zu.
    Ich bleibe lange so sitzen und fühle immer noch den Druck ihrer Arme. Hinten im Flur unterhalten sich meine Eltern, putzen ihre Zähne, knallen Schubladen zu. Ich hole Ingrids Tagebuch aus

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