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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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sehen, aber dann denke ich an die zahllosen Aktfotos, die ich in den letzten drei Jahren in ihrem Unterricht gesehen habe, und da kommt es mir nicht mehr so seltsam vor.
    »Kannst du dich daran erinnern, dass wir im Unterricht über die Arbeiten von Cindy Sherman gesprochen haben?«, fragt Ms Delani.
    Ich nicke. »Sie fotografiert sich selbst in verschiedenen Rollen.«
    »Richtig. Aber ich wollte nicht eine andere werden, ich wollte mit meiner Arbeit verschiedene Facetten meiner Persönlichkeit zusammenbringen: die Lehrerin, die Künstlerin, die Tochter, die Freundin. Und so weiter.«
    »Die sind gut«, sage ich.
    »Sie waren der Anfang. Genau wie diese Motel-Fotos. Die Selbstporträts waren zu prosaisch. Danach hab ich mich mit Haushaltsgegenständen beschäftigt, aber die waren zu statisch. Ich bin dann bei den Puppen gelandet. Immer noch Objekte, aber inhärente Präsentationen der weiblichen Gestalt. Als ich sie auseinandernahm und die Einzelteile unabhängig vom Ganzen betrachtete und wieder zusammenfügte, konnte ich die Themen, die ich bearbeiten wollte, endlich besser in den Griff kriegen.«
    »Woran arbeiten Sie jetzt?«
    Sie sammelt die Fotografien wieder ein und legt sie zurück in die Schublade. Hoffentlich war meine Frage nicht zu persönlich.
    Sie seufzt. »Tja, Caitlin, ich denke, das sind Themen, an denen wir beide gerade arbeiten. Ein tiefgreifendes Gefühl, dass etwas fehlt. Dunkelheit. Leere.« Ihre Fotografien werfen von der Wand ein Echo zurück. Ein Dutzend »Zimmer frei«-Schilder leuchten in der Dunkelheit.
    »Ich fange
immer
konkret an. Aber, wie ich schon gesagt habe, ist das erst der Anfang von dem Projekt.«
    Sie wendet sich von ihren Fotografien zu mir um.
    »Aber reden wir lieber über dich. Was willst du fotografieren, um ein Jahr schlampiger Fotos und nicht gemachter Hausaufgaben wettzumachen?« Ihre Worte klingen barsch, aber sie lächelt.
    »Geben Sie mir eine Aufgabe?«
    »Lieber nicht. Es ist spannender, worauf du selber kommen wirst.«
    Sie zeigt auf ihre Bücher. »Falls du Lust hast, ein paar von den Büchern durchzublättern, nur zu. Ich hab hier noch länger zu tun.«
    Ich stehe auf und lasse meine Finger über die Buchrücken gleiten. Sarah Moon. Walker Evans. Mona Kuhn. Lauter Fotografen, die ich liebe.
    »Wenn ich darf, möchte ich eigentlich lieber die Fotos ansehen, von denen sie mir erzählt haben. Ingrids Fotos.«
    »Natürlich.« Ms Delani zeigt auf den Schrank. »Die unterste Schublade. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
    Ms Delani lässt mich das Telefon im Klassenraum benutzen, um meinen Eltern zu sagen, dass ich hier bin und nicht rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein werde. Dann hocke ich mich in ihrem Büro auf den Boden und ziehe die Schublade auf. Wie sie gesagt hat, sind darin Hunderte von Fotos von mir. Manche erkenne ich wieder, von der Existenz anderer habe ich nie gewusst. Ich lege die Bilder von mir beiseite und suche weiter.
    Ich finde ein Foto von Ingrids Zimmer – Papierlaternen hängen in verschiedenen Höhen und werfen ein sanftes Licht auf Zeitschriften und verstreute Kleidungsstücke. Ich lege es vor mich auf die Erde. Daneben lege ich eins mit ihren Eltern am Pool in ihrem Garten. Tief vergraben in dem Stapel ist eins von ihrem Schreibtisch mit Buntstiften und einer Limo und ihrem Tagebuch – jetzt mein Tagebuch –, das bei einer der ersten Eintragungen aufgeschlagen ist. Es gibt ein Foto von der Ablage in ihrem Badezimmer voller Schminksachen und Haarspray und Haarklemmen. Eine Nahaufnahme von ihrem Spiegelbild. Der größte Teil ihres Gesichts wird von der Kamera verdeckt. Ich berühre sie am Kinn und lege das Foto neben die anderen.
    Ms Delani taucht in der Türöffnung auf. »Ich mach mir einen Tee. Möchtest du auch eine Tasse?«
    Ich nicke und suche weiter.
    Ingrids Plattenspieler. Ihre rosa Zehen in bereiftem Gras. Die Ecke von Daveys Wohnzimmer: vor dem Fenster hängen Regentropfen an Telefondrähten.
    Ms Delani geht um die Fotos herum, stellt einen dampfenden Becher auf die Fensterbank neben mir und schlüpft leise ins Nebenzimmer.
    Ingrids Beine mit einer Schnittwunde unter dem einen Knie. Ihr Vater schlafend auf dem Sofa.
    Ich entdecke, sortiere, schaue und konzentriere mich so sehr, dass ich gar nicht merke, wie dunkel es geworden ist, bis Ms Delani das Licht anknipst. Ich blinzele, stehe auf und betrachte prüfend den Boden in ihrem Büro, der mit Bruchstücken von Ingrids Leben bedeckt ist.
    Ich sammele alle
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