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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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Mir geht es dann besser, und deshalb werde ich dann auch nicht mehr wollen, dass es weh tut. Ich werde ein ganz normaler Mensch sein. Wenn du mich streichelst, wird sich das gut anfühlen. Und wenn ich vielleicht irgendwann mal ein kleines Mädchen bekomme, erzähle ich ihr diese Geschichte statt der anderen. Ich erzähle ihr von der Aussicht aus dem Hotelzimmer und wie du mit deinen Fingern meine Lippen berührt hast, bevor wir uns küssten.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Ich sehe in den schwarzen Himmel und versuche zu verstehen, warum Ingrid so etwas tun konnte. Ich versuche mich an diese Kerle zu erinnern. Einer hieß Kevin. Vielleicht Kevin und Lewis. Leroy? Kevin und Leroy? Wann genau war das? Was ist in meinem Leben an diesem Tag passiert? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ingrid danach gesehen habe, am Tag danach oder am selben Abend, und nichts gemerkt habe. Aber genau das muss geschehen sein. Vielleicht hat sie gewusst, dass sie sich so verhalten konnte, dass niemand etwas merken würde. Oder vielleicht hat sie gedacht, ich würde es merken, und war enttäuscht, als ich es nicht tat.
    Durch ein paar Äste sehe ich, wie das Licht in unserem Haus ausgeht. Das ist das Schlafzimmer meiner Eltern, und ich stelle mir vor, wie sie ins Bett gehen und sich wegen mir hier draußen Sorgen machen. Ich weiß, ich sollte reingehen, damit sie einschlafen können, aber das kann ich jetzt noch nicht, obwohl ich sogar gern ins Warme kommen und Ingrids Geschichte eine Zeitlang vergessen würde. Stattdessen lese ich weiter. Die nächsten Briefe sind kürzer, ich lese einen nach dem anderen.
    LIEBES HEUTE ,
     
    ich lebe dich und tu so, als wäre ich okay, obwohl ich das nicht bin, ich tu so, als wäre ich glücklich, obwohl ich das nicht bin, ich tu so, als wäre alles okay für alle.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Liebe Mom,
     
    ich hasse dich.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Lieber Dad,
     
    es tut mir leid.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Lieber Jayson,
     
    warum liebst du mich immer noch nicht?
    Liebe Mom,
     
    ich nehme das zurück.
    Ich blättere weiter, bis ich eine längere Eintragung finde
. Liebe Caitlin
, lese ich,
das ist ein echter Brief
.
    Mir bleibt das Herz stehen.
    Es gab keinen Abschiedsbrief.
    Das weiß ich ganz genau. Ihre Mutter rief meine Eltern an und hat es ihnen gesagt – kein Abschied, kein Abschiedsbrief.
    Doch.
    Jetzt.
    Nach so vielen Monaten.
    Die Nacht ist kalt. Ob meine Eltern inzwischen schlafen? Ich blättere die letzten Seiten durch.
    Nach diesem Brief sind alle leer.
    Ich hab mich vor diesem Moment gefürchtet: Wenn ich diesen Brief gelesen habe, bleibt von ihr nichts mehr übrig, was ich entdecken könnte. Ich mache meine Taschenlampe aus, jetzt gibt es nur noch das Mondlicht. Wind kommt auf, die Blätter rauschen. So klingt also Verlust. Oder Neuanfang. Ich knipse die Taschenlampe wieder an. Ich lese.
    Liebe Caitlin,
     
    dies ist ein echter Brief. Ich hoffe, du schaffst es bis hierher, aber ich bin nicht sauer, wenn du das nicht lesen willst. Ich hab das so gewollt, deshalb sei nicht traurig. Du suchst vielleicht nach Gründen. Aber es gibt keine Gründe. Die Sonne scheint nicht mehr für mich, das ist alles. Ich bin traurig. Ich bin immer, immer traurig, und diese Traurigkeit lastet so schwer auf mir, dass ich ihr nicht entkommen kann. Niemals. Es gab mal Tage, an denen dachte ich, es ginge mir gut oder es würde mir irgendwann mal gutgehen. Wir würden irgendwo zusammen sein, und alles wäre genau richtig, und ich würde denken, ›alles ist okay, wenn es immer so sein kann‹, aber natürlich kann nichts ewig so bleiben, wie es ist.
     
    Ich will dir nicht weh tun oder irgendwem sonst, deshalb vergiss mich einfach. Such dir eine bessere Freundin. Ich habe nie mit jemandem so schallend gelacht wie mit dir, aber jetzt fühlt sich nicht mal mehr das Lachen gut an.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Ich liege ungefähr eine gefühlte Million Jahre auf dem harten kalten Boden des Baumhauses. Dann klettere ich endlich doch die Leiter runter, taste mich durch die Dunkelheit zum Haus, mache alle Lichter aus und gehe in mein Zimmer.
    Ich habe ihr Tagebuch. Ich habe ihre Fotos.
    Und trotzdem.
    Es fehlt so viel. Ich krieche unter meine Decke und mache mich so klein wie möglich. Ich zittere, reibe meine Füße aneinander und versuche mit aller Macht, die Kälte zu vertreiben.

12
    Am nächsten Morgen gehe ich runter in die Küche. Meine Eltern sind schon auf.
    »Ich glaube, heute schaffe ich es nicht, in die Schule zu gehen.«
    Sie
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