Ich werde schweigen Kommissar Morry
sich.
„Ich kann seine Handlungsweise verstehen“, wiederholte Pancras Holm. „Ich würde es am liebsten genauso machen wie er. Wenn ich genügend Geld hätte, würde ich meinen Beruf und das ganze Parlament an den Nagel hängen. Anderswo kann man sorglos in den Tag leben. Hier weiß man nie, ob man am nächsten Tag noch die Sonne sieht.“
Vergeblich wartete er auf eine Antwort. Die Unterhaltung schlief wieder ein. Keiner hatte Lust, den Mund aufzumachen. Es war ja doch immer das gleiche, das sie hier zu besprechen hatten. Seit Wochen hörte man nichts anderes mehr, als die düsteren Gespräche über den Tod und wer denn von ihnen der nächste sei. Niemand von ihnen wußte ein fröhlicheres Thema. Sie kamen immer wieder auf ihre Sorgen zu sprechen.
Es war deshalb .kein Wunder, daß sich die Tischgesellschaft schon kurz nach zehn Uhr auflöste.
Winston Finsbury und Nicolas Gory behaupteten, daß sie müde seien und sich nach ihrem Bett sehnten. Aaron Goldsmith wollte noch in seinen Klub gehen. Sie verabschiedeten sich ohne viel Worte. Pancras Holm blieb allein zurück. Er wußte nicht, was er mit dem langen Abend anfangen sollte. Er war Junggeselle. Zu Hause erwartete ihn nichts als eine leere Wohnung.
Er ging zur Bartheke und kletterte auf einen der roten Plüschsessel, und er richtete es so ein, daß er genau Daisy Hoorn gegenüber saß. Warum sollte sie nicht merken, daß sie ihm gefiel. Er unterhielt sich gern mit ihr. Sie hatte immer ein passendes Wort und einen Scherz zur rechten Stunde. Während sie ihm einen Cocktail einschenkte, äugte er bewundernd auf ihre füllige Gestalt.
„Sie sehen auch nichts anderes, als diesen Laden“, begann er das Gespräch. „Haben Sie nicht mal Sehnsucht nach einer anderen Umgebung? Nach einem netten Kabarett zum Beispiel?“
„Vielleicht“, sagte Daisy Hoorn mit geschäftsmäßigem Lächeln.
„Vielleicht, Mr. Holm. Aber ich wüßte nicht, wer mich dorthin begleiten sollte. Ich habe zwar viele Freunde, aber im Grunde ist man doch ganz allein auf dieser Welt.“
„Wenn Sie mit mir zufrieden sind, werde ich Sie gern in ein nettes Tanzkabarett begleiten“, sagte Pancras Holm. „Ich warte hier, bis Sie Dienstschluß haben. Ist es Ihnen recht?“
„Nein“, sagte Daisy Hoorn herb, und plötzlich war sie völlig verwandelt. Die düsteren Schatten der Erinnerung waren wieder da. Sie dachte an Mark Vereston. Sie dachte an die entsetzlichen Stunden, die sie in seinem Haus erlebt hatte.
„Wenn Sie irgendein beliebiger Mann wären, würde ich mit Ihnen gehen“, sagte Daisy Hoorn verhalten. „Dann käme es mir auch nicht darauf an, bis zum Morgen bei Ihnen zu bleiben. Aber so geht es leider nicht, Mr. Holm. Das müssen Sie verstehen. Ich will nicht noch einmal diese rote Blume sehen..."
„Verdammt, man hört überhaupt nichts anderes mehr“, brummte Pancras Holm enttäuscht. „Eben haben wir erst zwei Stunden lang von solchen Dingen gesprochen. Und nun fangen Sie auch noch damit an.“
Er warf mißmutig einen Geldschein auf die Theke und entfernte sich dann in Richtung des Ausgangs. Man ist wie ausgestoßen, dachte er. Man wird behandelt, als hätte man den Aussatz. Ich werde diese Reise nach Brasilien bis zu meinem Lebensende verfluchen. Er stieg draußen in seinen modernen Wagen und fuhr auf schnellstem Weg nach Hause. Als er vor dem neuzeitlichen Mietsblock hielt, blickte er zögernd an der dunklen Fassade empor. Ihm graute auf einmal davor, dieses Haus zu betreten. Er hatte eine dumpfe Angst vor der Einsamkeit, die ihn in seiner Wohnung erwarten würde. Schon im Treppenhaus spürte er eine seltsame Beklemmung in der Brust. Diese bange Ahnung wurde immer düsterer, je näher er seiner Wohnung kam. Er hatte kaum die Tür aufgeschlossen, da wanderte er auch schon hastig durch alle Räume, um sich davon zu überzeugen, daß während seiner Abwesenheit niemand eingedrungen war.
Er fand alles beim alten. Die Schränke und Schubladen waren unversehrt. Jedes Ding stand am richtigen Platz. Im ersten Moment spürte Pancras Holm eine gewisse Erleichterung. Aber dieser Zustand hielt nicht lange an. Als er sich ins Bett legte, kam die alte Unsicherheit wieder über ihn. Er wagte nicht, das Licht zu löschen. Er ließ die Nachttischlampe brennen. Er wußte genau, daß er in der Dunkelheit niemals hätte zur Ruhe kommen können.
Aber auch so lag er lange wach. Ständig horchte er in die stille Wohnung hinein. Bei jedem Knacken fuhr er nervös empor. So oft ein
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