Ich will dir glauben
auch in diesen Umstand verliebt. In die Begierde, die sie in seinen Augen erkennen konnte. In den Wunsch, sie zu erobern, koste es, was es wolle. Sie zu besitzen. Zudem besaß er das gewisse Etwas. Diese besondere Art, zuzuhören und zu denken. Das Geschick und den Mut sich jeder Situation zu stellen. Überlass das ruhig mir . Und das war bei ihm nicht nur eine Floskel.
Seine Rolle ist die des klassischen Mannes. Die er gut kennt und ernst nimmt. Seine Schwächen? Jähzorn und ein aufwallendes Temperament. Das ist sein wunder Punkt. Gefühlsausbrüche, die nicht selten in körperlicher Aggression ausarten. Saat seiner verkannten Zerbrechlichkeit, die alles außer Kraft setzt. Wenn er gewalttätig wird, kann er einem sogar Angst einflößen. Maria Dolores weiß das, redet sich selbst jedoch ein, ihn nicht zu fürchten.
Hochmut gegen Zorn , ein Konflikt, der gefährlich werden kann. Nichtsdestotrotz fühlt sie sich von ihm angezogen und kann auf ihn nicht verzichten. Als gute Psychologin hält sie ihn mit therapeutischem Geschick in Schach. Und führt mit ihm ein ständiges Kopf-an-Kopf-Rennen, dank ihres Berufes als Kommissarin. Aber starke Gefühle nähren die Laster und bringen sie zum Ausbrechen. In ihrem Fall haben beide, aus unterschiedlichen Gründen, ihre Gefühle wenig im Griff. Sie beide kämpfen in ihrem Leben einen persönlichen Kampf gegen die Angst. Angst, sich aufgeben zu müssen. Getäuscht zu werden. Ihr wahres, fehlbares Ich zeigen zu müssen.
37
Die Nachbarin meiner Eltern läutet an der Wohnungstür. Passender wäre es wohl zu sagen, sie hält den Klingelknopf so lange gedrückt, bis sie den Schlüssel im Schloss herumdrehen hört. Sie hat ihren Mann verloren und lebt nun allein. Von Zeit zu Zeit kümmert sie sich um einen ihrer Enkel. Die grauen Vorhänge vor ihrem Fenster sind immer zugezogen und dieselben, seit sie hier vor vierundvierzig Jahren eingezogen ist. Ihre Tochter, mit der ich gemeinsam die Grundschule besucht habe, arbeitet bei McDonald’s. Sie hatte abstehende Ohren und wickelte daher immer ein blaues Band um ihren Kopf, das helfen sollte, sie anzulegen und zu kaschieren. Kinder kennen in diesem Alter keine Gnade, wenn der Körper einer Comicfigur ähnelt. Wunden, die man sein ganzes Leben nicht mehr loskriegt. Dumbo und Teletubby. Schön, hässlich. Nur in wenigen Bereichen sind Kinder bereits so klar, direkt und hart.
Meine Nachbarin besitzt einen Wohnwagen. Nun ist er nicht mehr funktionstüchtig und steht vor dem Haus. Jeden Tag geht sie runter, öffnet die Fenster, macht von innen sauber und schwelgt in Erinnerung an die vielen Urlaube auf den Campingplätzen Italiens. Einmal hatten sie und ihr Mann sich einen kleinen Bungalow in der Ferienanlage bei Gabicce geleistet, doch dann gleich weiterverkauft. Zu viele Mücken im August, zu schwül und zu viele schreiende Kinder.
»Doris, ich bin’s. Willst du frischen Chicorée?«
Der Chicorée ist grün. Frühgemüse aus ihrem eigenen kleinen Gärtchen, der mit Plastik abgedeckt ist und am Fluss Lambro liegt. Von was hat der Chicorée sich genährt, dass er schneller als die anderen gewachsen ist? Von Pisse und Scheiße. Blei und Amin. Der Lambro, ein halbtrübes Gewässer, schlängelt sich gemächlich durch den Osten Mailands. Er ist Sammelstelle für die Abwässer von elf Millionen Menschen. Den körpereigenen Ausscheidungen, den fauligen Überbleibseln von Fehlkalkulationen. Nichts weiter als die Illusion eines Flusses.
»Also, willst du ihn jetzt nun? Er ist schön knackig und wird dir guttun.«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Soll ich die Wahrheit sagen, nämlich dass ich ihren von Jauche gedüngten Chicorée nicht essen werde? Weil er Stickstoffdioxyd und Industrieabgase absorbiert hat und Leptospirose überträgt? Oder soll ich ihr Geschenk annehmen, den Chicorée im Kühlschrank verstauen und zwei Minuten später in den Abfall werfen? Man lügt, um seinem Mitmenschen einen Gefallen zu tun. Um ihn nicht zu kränken. Weil man ja nicht immer alles sagen muss. Unterschlagen. Schweigen. Takt und Anstand sind kleine Lügen, Pirouetten mit unerwarteter Verbeugung. Kleine Heucheleien.
Geben Sie mir ruhig Ihren Chicorée, und fragen Sie mich dann gleich auch noch, wie er mir geschmeckt hat. Wenn ich morgen früh nicht schon als Kadaver daliege, wie die Enten, die Tauben, die ausgezehrten Hunde oder die kranken und verkrüppelten Katzen.
Die schlimmsten Albträume entstehen aus den farbigen Schlieren des Lambro, der
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