Ich will dir glauben
Vergani: »Wenn man einen Menschen tötet und es dafür keine Zeugen gibt, kann man also, um sich zu verteidigen, lügen und hat auch noch das Gesetz auf seiner Seite.«
Max Nagel: »Natürlich.«
Maria Dolores Vergani: »Das ist nicht moralisch.«
Max Nagel: »Zum Teufel mit der Moral!«
Maria Dolores Vergani: »Ach ja, richtig. Vor dem Gesetz darf man ja lügen, um sich zu verteidigen. Ich vergesse immer dieses winzige und unbedeutende Detail.«
Max Nagel: »Hier geht es schlicht ums Überleben. Da kannst du dir die Moral sonst wohin stecken.« Ihm entwischt aus Versehen das »Du«.
Maria Dolores Vergani: »Wir sprechen hier vom Tod eines Menschen.«
Max Nagel: »Sie kommen mir vor wie eine Jurastudentin im ersten Semester. Ich erkläre es Ihnen jetzt noch einmal: Würden Sie sich dazu entschließen, die Unwahrheit zu sagen, könnten Sie hundertprozentig davon ausgehen, dass Sie jemand dieser Lüge überführen würde. Das irdische Gericht müsste den Beleg erbringen, dass das fragliche Subjekt, also Sie, wirklich lügt. Es muss nachweisen, dass die objektiven Fakten von Ihrer Version der Dinge abweichen. Sagen Sie, Vergani, gibt es, abgesehen von der Staatsanwaltschaft von Aosta, die in dem Fall die Ermittlungen eingeleitet hat, jemanden, der Sie der vorsätzlichen Tötung dieser Frau beschuldigt? Gibt es Zeugen, die das bekräftigen können? Gibt es konkrete Beweise, die widerlegen, dass die Version der einzigen am Tatort anwesenden Person richtig ist? Gibt es Anhaltspunkte oder Beweismittel der Spurensicherung, die etwas anderes als Notwehr nahelegen? Sie treiben mich wirklich noch an den Rand des Wahnsinns. Wollen Sie Ihren Kopf für jemanden anderen hinhalten? Da mache ich nicht mit. Und genauso wenig können Sie es wollen, dass ein anderer Unschuldiger verurteilt wird. Überlegen Sie es sich gut, Sie überspannen den Bogen. Hier geht es nicht darum, dass Sie Ihre Schuldgefühle loswerden, sondern um einen Gerichtsprozess, in dem Sie die einzig mögliche Wahrheit sagen müssen.«
Maria Dolores Vergani: »Dieser Mann hat vorsätzlich auf einen Menschen gezielt und ihn getötet.«
Max Nagel: »Dieser Mann hat von seinem Recht der Notwehr Gebrauch gemacht. Er gibt an, Sie vor einem Übergriff geschützt zu haben, der für Sie tödlich hätte enden können. Im Moment der Festnahme hatten Sie am Hals entsprechende Hämatome, die diese Version mehr als glaubhaft machen. Hinzu kommt Ihre intuitive Tat der Selbstverteidigung. Können Sie mir sagen, wo Sie sich diese Male sonst zugefügt haben sollen? Durch einen Treppensturz? Und wann soll das gewesen sein? Gibt es dafür Zeugen? Sie sind ein wenig zu überheblich. Sie würden gerne die Märtyrerin, die Heldin spielen. Lassen Sie sich doch stattdessen lieber zu einer Geste der Demut herab. Sie haben sich ungeschickt verteidigt und dabei einen Menschen getötet. Genauer gesagt: dazu beigetragen, einen Menschen zu töten. Tut mir leid, aber Sie haben nicht einmal den alleinigen Anspruch auf die Tötung.«
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Wer kann das sein? Meine Mutter bestimmt nicht. Mein Vater auch nicht. Sie haben beide einen Schlüssel. Ich schaue im Sitzen auf die Tür. Ich lese. Alle Zeitungsartikel, die meine Person betreffen. Ich lese alle Porträts über mich, alle Betrachtungen über das Leben und den Tod. Ich lese, was die Familien sagen. Ein Foto zeigt mich im Streifenwagen der Polizei, mein Gesicht in Großaufnahme. Ein anderes die Tatwaffen und angeblich die Wälder des Aostatals. Aber das stimmt nicht. Die veröffentlichten Fotos zeigen Wälder aus dem Veltlin. Irgendwelche Archivbilder, das sieht man sofort. Es fehlen die dunklen Felsen und die hohen Pinien. Nicht einmal das Unterholz mit dem wuchernden Farn kann man auf den Fotos entdecken. An jenem Tag standen wir aber knietief im Farn und in Heidelbeersträuchern.
An der Tür klingelt es ein zweites Mal. Vielleicht gibt es ja dieses Mal Zucchini mit Rückstrahlern. Ich rufe, wer da ist, bekomme jedoch keine Antwort. Es werden die Carabinieri sein. Wahrscheinlich sind sie direkt bis zur Wohnungstür gekommen und wollen jetzt einen Kaffee. Ich öffne.
»Guten Tag.« Das ist alles, was er sagt. Er ist jung, größer als ich. Er hat helle Augen, durchsichtige Haut und ein kleines Piercing an der Oberlippe. Die feinen blonden Haare reichen ihm bis auf die Schultern. Er fragt nichts und tritt mit gesenktem Blick in die Wohnung. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Tür wieder zu schließen. Was ich dann auch
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