Ich will dir glauben
Er setzt sich, die beiden Eltern machen jedoch keinerlei Anstalten, seinem Beispiel zu folgen. Er beschließt, einige Minuten abzuwarten und blickt sich um. Überall Bücher. In den Wandregalen, auf den Tischen, am Boden ordentlich übereinandergestapelt. Auch in der Küche liegen Bücher.
Dann bleibt sein Blick am Hausherren haften: »Sie müssten den Leichnam noch identifizieren. Natürlich nur, wenn sich Ihre Frau imstande dazu fühlt. Ich begleite Sie.« Sie nickt und verschwindet hinter einer Tür. Er ist bereits fertig zum Gehen und steuert auf die Garderobe neben der Eingangstür zu.
»Sie war ein sehr intelligentes Mädchen, dickköpfig und intelligent. Sie lernte viel, liebte Bücher, war immer sehr gut in der Schule. Ich würde sogar sagen erstklassig. Und das sage ich nicht, weil sie meine Tochter war.«
Er spricht in der Vergangenheit von ihr. So als wäre sie vor ihrem eigentlichen Tod für den Vater schon längst gestorben gewesen. Ein Gefühl, dem Funi auf den Grund gehen will. »War es das erste Mal, dass sie nicht nach Hause kam?«
»Nein, sie blieb öfters weg. Aber normalerweise benachrichtigte sie uns dann. Sie traf regelmäßig so Leute aus einer Gruppe, mit denen sie mystische Gebete sprach. Sie hatte diese religiöse Besessenheit … Manchmal suchte sie Zuflucht in einem Kloster. Damit es keine Missverständnisse gibt: Sie wollte nicht etwa Nonne werden, oder etwas in der Art. Sie wollte über einen intellektuellen Ansatz zu einem tieferen Dasein gelangen.«
Hinter der Notwendigkeit einer Erklärung versteckt sich immer etwas, das sich zu entdecken lohnt. »Sind Sie denn besonders religiös?«
»Absolut nicht. Anna ist nicht einmal getauft. Wir vertreten eher die wissenschaftliche Richtung. Wir haben ihr das nötige Werkzeug mitgegeben, um sich eine persönliche Sicht auf die Dinge zu erschließen, um einen eigenen Standpunkt zu vertreten.«
»Meine Tochter war krank«, fällt ihm seine Frau mit geröteten Augen und einem leicht aggressiven Unterton ins Wort. »Sehr krank: Sie hatte schwere Magersucht.«
»Das stimmt nicht«, widerspricht ihr Mann. »Sie verfolgte ihren intellektuellen, visionären Weg. Wie Simone Weil. Kennen Sie Simone Weil? Oder Sylvia Plath?«, wendet er sich an Funi, der beide Namen noch nie gehört hat.
»Kommst du schon wieder mit diesem Blödsinn?«, unterbricht ihn seine Frau. »Sie war krank, im letzten Stadium. Sie stirbt, wenn sie nicht behandelt wird, das habe ich dir gesagt, aber du wolltest mir nicht glauben. Und jetzt ist sie tot. Ich möchte sehen, wie du dir die Dinge jetzt wieder hindrehst. Vielleicht ist es für dich ja ein heldenhafter Tod? Was glaubst du, war die Todesursache? Eingeflößte Wissenschaft, philosophisch-existenzielle Forschungen, erhabene Wahrnehmungen …?«
Verrückt, sonderlich, unter Schock, geisteskrank . Funi sucht nach einem passenden Begriff, um das Verhalten der beiden einordnen zu können. Aber das ist im Augenblick nicht sein Hauptproblem, zumindest keins, das jetzt gelöst werden muss. Das Wichtigste ist nun herauszufinden, welche Verbindung Anna mit den Kreuzen haben könnte.
»Gehen wir. Streiten hilft uns jetzt auch nicht weiter. Ihre Tochter wartet auf ihre Identifizierung.«
Während er zum Auto geht, an dem ein Kollege am Steuer bereits auf ihn wartet, tippt Funi eine Nummer in sein Handy. »Nina, ich bin auf dem Weg zu dir.« Er bemerkt die Zweideutigkeit seiner Aussage und korrigiert sich: »Ich meine, ich komme jetzt gemeinsam mit den Eltern des Mädchens zu dir in die Pathologie. Könntest du mir einen Gefallen tun? Könntest du bei der Identifizierung dabei sein?«
Sie gibt ihr Einverständnis.
56
Es hat den ganzen Winter damit verbracht, sein Revier abzustecken. Es hüpft von einem Topf Alpenveilchen zum nächsten. Mit seinen kleinen Krallen schabt es in der Erde und zieht mit dem Schnabel die Regenwürmer heraus. Wenn ich das Fenster geöffnet lasse, wird es mutig. Es kommt herein und hüpft umher, bis ich meinen Atem nicht mehr länger anhalten kann. Dann erschrickt es und fliegt nach draußen. Ich wusste nicht, dass Rotkehlchen in der Stadt überwintern. Ich wusste nicht, dass sie aggressiv und kämpferisch sein können. Sie legen sich mit jedem an. Sie sind Einzelgänger, nicht wie die Schwalben, die immer in Schwärmen auftreten. Alles, was für sie zählt, sind sie selbst, ihr Revier und ihre rote Brust, die sie all jenen kampfeslustig entgegenstrecken, die es wagen, sich ihnen zu nähern. Am
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