Ich will dir glauben
weniger gefallen. Außerdem muss ich damit aufhören, den Schrank immer wieder umzuräumen. Es gibt darin noch Sachen, die ich vor mehr als zwanzig Jahren hiergelassen habe. Dieser Schrank ist das Einzige, was sich nicht verändert hat, seit ich fortgegangen bin. Meine Mutter ruft lauthals nach mir: »Maria Dolores, hier ist jemand, der dich sprechen will.«
»Ist gut, ich komme schon.«
Ich höre, wie sie die Türe schließt. Dann sind es also doch »die Schwarzen«. Sie weiß, dass sie niemanden sonst hereinlassen darf. Ich lasse mir Zeit und ziehe mich in aller Ruhe um. Es wäre mir peinlich, mich in Jogginghose zu zeigen. Ich habe sie nur an, wenn ich trainiere. Ansonsten kleide ich mich, als würde ich ausgehen. Ich entscheide, wohin es heute geht, und wähle danach meine Kleidung. Vielleicht ist sie nicht mehr ganz so modisch, aber was macht das schon? Wenn diese Geschichte vorbei ist, werde ich als Erstes meine Garderobe erneuern und zum Frisör gehen. Draußen. Zum ersten Mal seit Langem habe ich in Gedanken diese Wohnung verlassen. Ich glaube also daran, dass alles gut ausgehen wird. Der Gedanke an Freiheit beginnt sich in meinem Kopf zu formen. Und dennoch muss ich mindestens weitere sechs Monate eingeschlossen hier drinnen verbringen. Und danach? Maria Dolores, du wirst erwartet, hör für einen Moment auf nachzudenken, und geh endlich nach drüben.
»Und?«, frage ich sie nicht gerade im höflichsten Ton.
»Er ist wieder gegangen«, antwortet sie.
»Wer war es denn?«
»Ich weiß nicht. Er hat seinen Namen nicht genannt.«
»Und was wollte er?«
»Ich weiß nicht. Er hat nur nach dir gefragt.«
»Mama, du lernst auch wirklich nichts dazu. Du fragst nicht nach dem Namen, du hinterlässt keine Nachrichten.«
Schon als ich noch hier wohnte, brachte sie mich damit zur Weißglut. Da hat jemand für dich angerufen . Wer denn? Wer hat angerufen? Manchmal hatte ich tagelang auf einen Anruf, ein Zeichen, eine Stimme gewartet. Ich rief die Falschen zurück, machte mir selbst etwas vor und verursachte dadurch nur Schaden.
»Wie sah er denn aus? Kannst du ihn mir wenigstens beschreiben?«
»Es war ein Junge. Ein Teenager.«
»Ein Junge? Ein junger Mann meinst du wohl, mit einem Piercing an der Oberlippe und blauen Augen? Sah er so aus?«
»Ein Mann? Nein, ein Mann war es nicht. Er war noch nicht so alt. Ein Junge, es war ein Junge.«
Er wirkt wie ein Junge, ich bin mir sicher, dass er es war. Er wirkt wie ein Junge, ist aber ein Mann. Ein junger Mann. Er wird zurückkommen. Ich denke, er wird wiederkommen. »Hat er gesagt, dass er ein anderes Mal wiederkommt?«
»Nein, das hat er nicht gesagt. Wer ist das denn? Kennst du ihn? Ist er Polizist?«
»Ja, ich kenne ihn. Um genau zu sein, kenne ich ihn von früher. Lass ihn das nächste Mal einfach rein, hörst du?«
»Aber das darf ich doch nicht. Wenn er kein Polizist ist, darf er doch nicht rein.«
»Mach einfach, was ich dir sage.«
Ich denke an ihn. Jede Minute. Ständig.
Währenddessen läutet es erneut an der Tür. Dieses Mal öffne ich. Es ist Pietro Corsari, unübersehbar in einem desaströsen Zustand. Er betritt das Wohnzimmer meiner Eltern. Er fragt nicht um Erlaubnis, grüßt nicht, lässt sich einfach in den Sessel fallen. Meine Mutter schaut mich fragend an und verlässt stumm den Raum. Sie grüßt ihn flüchtig. Sie hat Corsari noch nie gemocht. Heute geht es zu wie in einem Taubenschlag. Und nicht nur in meinem begrenzten Raum.
55
Er musste sich unbedingt bei Nina melden, doch vorher erst noch die Eltern von Anna Tura benachrichtigen. Achille Funi hatte bereits recherchiert, dass sie seit mindestens einem Monat zu Hause vermisst wurde. Die Eltern hatten eine Woche nach dem unerklärlichen Fortbleiben des Mädchens die Vermisstenanzeige aufgegeben.
Die Mutter weint im Stehen und versucht dabei, jedes Schluchzen zu unterdrücken. Der Vater tröstet sie nicht, lässt eine Distanz erkennen, die nicht sein Körper, sondern seine Worte verraten. Er ist es, der mit Funi spricht. »Anna ging es schlecht. Schon seit Langem. Wir haben alles Mögliche versucht, um ihr zu helfen, aber es hat nichts genützt. Sie war im Umgang mit sich selbst sehr streng und vertrat eine theoretische und unanfechtbare Haltung.«
Nach zwanzig Minuten Weinen und phrasenhaften Worten, steht Funi noch immer am Eingang. Er bittet darum, sich setzen zu dürfen. Der Mann fordert ihn auf, am Küchentisch Platz zu nehmen. Die harten Stühle sind jetzt genau das Richtige.
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