Ich will dir glauben
Anfang habe ich Mitgefühl empfunden für diesen Vogel mit den großen sanften Kugelaugen. Ich habe Nüsse geknackt und ihm den Kern angeboten. Einen halben Apfel. Ein paar Samen. Dann habe ich verstanden, dass diese Erweiterung der Pupillen nur dazu dient, seine Augen an das Licht der Dämmerung anzupassen. Um Dinge zu sehen, die es nicht einmal in meiner Vorstellung gab. Ich weiß, das Rotkehlchen würde mich am liebsten zum Teufel jagen. Ich verärgere es, indem ich hier schon Monate verbringe. Es hält mich für eine Krähe, die sich das Gefieder putzt, während es auf einen Sonnenstrahl wartet. Um zu neuem Glanz zu erwachen. Eine Krähe, die fremdes Revier besetzt. Einsam und aggressiv. Wie das Rotkehlchen selbst. Nur noch schlimmer.
»Was? Er hat dir gar nichts davon gesagt? Seltsam.«
Nein, er hat nichts gesagt. Und du freust dich darüber, stimmt’s, Corsari? So hast du wenigstens deine Genugtuung, und mir konntest du eins auswischen. Dabei weiß ich nicht einmal, warum mir das etwas ausmachen sollte, dass er mir nichts gesagt hat. Ich habe ihm immer Mut gemacht, diesen Schritt zu gehen. Das kann ich nicht leugnen. Und dennoch fühle ich mich gekränkt. Das ist gewiss.
Dass du jetzt in meinem Büro sitzt, tröstet mich allerdings.
»Besser er als jemand anderes«, erwidere ich.
»Du meinst, besser er als ich?«
»Ja, Pietro. Ich weiß, dass wir uns im Augenblick nicht besonders nahestehen. Ich bin mir sicher, dass du dir eine etwas andere Freundschaft gewünscht hättest. Etwas weniger Distanz. Das kommt vor. Aber weißt du, wir wünschen uns eben nicht immer dieselben Dinge. Und Beziehungen entstehen nun mal auf der Basis gegenseitigen Einverständnisses.«
»Du traust mir nicht. Du hast mir nie getraut.«
»Das stimmt so nicht ganz. Aber ich habe keine Lust, darüber zu sprechen. Sag mir lieber, warum du hier bist.«
»Ich brauche deine Hilfe. Einen Rat. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie will mich nicht mehr, und ich fürchte, sie will Italien verlassen. Ich bin wirklich verzweifelt.«
»Überlass sie ihrem Schicksal. Behalte sie nicht wie eine Gefangene bei dir. Mit einer Erpressung wirst du nicht das erreichen, was du willst.«
»Das ist mir egal. Ich will nicht, dass sie geht, und damit Schluss. Sie ist durcheinander, sie kann sich nicht entscheiden. Im Grunde hat sie Angst, dass ich sie früher oder später verlassen könnte. Sie hat mir gesagt, dass sie, eine ehemalige Tänzerin, sich nicht würdig fühlt, mit jemandem wie mir zusammen zu sein. Dass sie nicht einmal lesen könne. Als ob mir das was ausmachen würde. Das kann ich ihr doch alles beibringen.«
»Eine Nutte, Pietro. Eine Nutte, das ist es, was sie war und vielleicht noch immer ist. Und du warst sehr großzügig zu ihr.«
»Das stimmt nicht.«
»Du klammerst dich in deinen Gedanken an etwas, was nicht ist. Das ist deine Wahrheit, allein deine.«
»Da redet ja gerade die Richtige! Ausgerechnet du, die hier seit Monaten eingeschlossen ist und sich ihre ganz besondere Wahrheit zusammenbastelt. Auf was wartest du denn noch? Warum sagst du nicht endlich, dass du sie umgebracht hast? Dass du Selbstjustiz geübt hast? Na los, warum sagst du nicht endlich die Wahrheit? Anstatt auf deiner Kanzel zu verharren, während die anderen dir von unten zujubeln. Wer glaubst du eigentlich, wer du bist, Vergani? Du lügst, um deinen eigenen Arsch zu retten. Du bist genauso mies wie alle anderen. Das bist du. Und ich habe das begriffen.«
Ich blicke ihm in die Augen. Ich hoffe, dass er weiterredet. Mich in die Enge treibt. Mir etwas verrät, was ich nicht weiß. Über besagten Tag, über meine Geschichte. Aber er verstummt.
Er wollte sich nur Luft machen. Ich bin nicht sein eigentliches Problem. Es ist nicht meine Wahrheit, die ihm zu schaffen macht. Er erhebt sich vom Sessel, dreht sich um und geht. Ich bleibe sitzen und rühre mich nicht vom Fleck.
57
Die Gerichtsmedizinerin Nina Parisi willigt auch in die Einladung zu einem Abendessen ein. Und so ist es dieses Mal an Funi, die mit Maria Dolores vereinbarte Verabredung kurzfristig abzusagen.
»Ich schaffe es leider nicht vorbeizukommen. Aber ich schicke Ihnen den Autopsiebefund des Mädchens, das man unter dem Kreuz von Civate gefunden hat, per Mail. Wenn Sie Lust haben, werfen Sie doch mal einen Blick darauf. Mich würde interessieren, was Sie dazu meinen.«
»Einverstanden, Funi. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie morgen gerne in jedem Fall hören. Ich muss mit Ihnen
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