Ich will dir glauben
die Augen vor der Realität zu verschließen? Seitdem wir beschlossen haben, uns nicht mehr zu hören, hat sich in unserem Privatleben nichts verändert. Ich bin noch immer gebunden, schlimmer noch, ich bin sogar weniger frei als vorher, was dir nicht unbekannt sein dürfte.«
»Und genau hier irrst du dich. Bei mir hat sich einiges getan, wie ich dir auch schon in meiner E-Mail geschrieben habe.«
»Welche E-Mail?«
Schweigen.
»Sag jetzt bloß nicht, dass du die E-Mail nicht gelesen hast.«
»Welche E-Mail, habe ich gefragt?«
»Tut mir leid, wenn ich noch einmal auf jenen Tag zu sprechen kommen muss, aber ich habe sie dir genau am Abend davor geschickt. Ich habe dir genau geschrieben, was ich tun werde, und dich gefragt, ob wir es nicht gemeinsam versuchen wollen.« Er wählt behutsam seine Worte, als spräche er sie zum ersten Mal aus.
»Wie bitte? Was meinst du denn mit ›gemeinsam versuchen‹? Habe ich dir denn auf deine Mail geantwortet?«
»Nein, du hast nicht geantwortet. Aber ich habe es auch ohne dich durchgezogen.«
»Luca, könntest du dich bitte ein wenig klarer ausdrücken?«
»Ich bin daheim ausgezogen und habe mir ein Zimmer in einer Pension genommen. Mein Leben war und ist noch immer die Hölle. Aber nicht etwa, weil ich mich falsch entschieden hätte, sondern weil du mir fehlst.«
Ihr kommt es vor, als würde der Albtraum mit jeder Minute unerträglicher werden. Sie hat bereits eine Zigarette im Mund. Etwas Alkoholisches wäre jetzt auch nicht schlecht. Aber dafür ist sie zu gebannt von dem, was sie hört. Ausgenommen der Teil über seinen trennungsbedingten Zustand.
»Warte mal kurz. Du hast mir also am Abend, bevor alles passiert ist, eine Mail geschrieben. Und ich habe dir darauf nicht geantwortet. Und was hast du dann getan?«
»Ich habe dich angerufen.«
»Und ich?«
»Wo du warst, weiß ich nicht. Er zumindest meinte, du seist im Bad.«
»Wen meinst du mit ›er‹?«
Sie spürt, wie ihr heiß wird. Sie erhebt sich, um die Balkontür zu öffnen, um besser Luft zu bekommen. Im Haus gegenüber hatte jemand die gleiche Idee wie sie. Ein Mann steht rauchend an das Balkongeländer gelehnt und schaut zu ihr herüber. Sie winkt ihm, und er erwidert den Gruß. Er steht fast immer auf dem Balkon und raucht, oder zumindest sieht sie ihn jedes Mal, wenn sie nach draußen geht. Eine Frau ruft nach ihm, und er kehrt in seine Arrestzelle zurück, in die er geraten ist, vermutlich ohne jemanden getötet zu haben.
»Wer hat dir am Telefon geantwortet? Wer ist ›er‹?«
»Conti. Dein Lebensgefährte. Er war es, mit dem ich an jenem Abend gesprochen habe.«
63
»Ich weiß, das sind alles nur Hypothesen. Aber ich möchte diese Richtung weiterverfolgen. Zumindest solange es geht. Wenn Sie mir Ihr Einverständnis geben, werde ich alles Nötige veranlassen. Danke.« Der Untersuchungsrichter ist verständnisvoll und Funi überzeugend. Er ist mit dem Erstellen des Schriftgutachtens und weiteren Befragungen der Eltern der toten Mädchen einverstanden. Funi beendet das Telefonat und nimmt das Gespräch mit der ihm gegenübersitzenden Nina Parisi wieder auf, die in letzter Zeit immer häufiger in seinem Büro anzutreffen ist.
Nina Parisi: »Sieh mal hier. Ein Artikel, der vor einiger Zeit in Como in der Presse erschienen ist.«
Der Eigentümer des Grundstücks hatte sich durch die wiederholten Aktionen so weit provoziert gefühlt, dass er am ersten April dieses Jahres die Carabinieri rief, die den immer massiver werdenden Übergriffen ein Ende setzen sollten. Die drei Personen, die als Ansprechpartner der religiösen Gemeinschaft ausgemacht wurden, erhielten eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Beschädigung öffentlichen Eigentums und wurden dem Staatsanwalt von Como vorgeführt. Einer der drei Personen, angeblich das Oberhaupt dieser weltweit agierenden religiösen Gemeinschaft, die in ganz Italien Anhänger findet, bekräftigte, dass dieses Stück Land päpstliches Eigentum sei.
Die daraufhin unternommene Umzäunung des Grundstücks seitens des rechtmäßigen Besitzers konnte nicht verhindern, dass die Anhänger auf besagtem Stück Land drei riesige Kreuze errichteten, umso mehr, als der Eigentümer inzwischen davon Abstand genommen hatte, strafrechtliche Schritte einzuleiten. Die religiöse Gemeinschaft bestreitet, die Tat begangen zu haben, mit Verweis auf das übermäßige Gewicht und die beachtlichen Ausmaße der Kreuze.
»Wie bist du denn an den Artikel gekommen?«, fragt Funi,
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