Ich will dir glauben
war, nachdem ich die Frau angegriffen habe.«
»Alles der Reihe nach«, sagt er. »Den Abend davor lassen wir für den Moment mal beiseite, und wir gehen direkt zu dem Tag, an dem Sie im Wald von Challand unterwegs waren. Woran Sie sich nicht mehr erinnern können, ist, warum Sie die Frau angegriffen haben, richtig?«
»Richtig«, pflichte ich ihm bei.
»Also: Sie erinnern sich nicht konkret an einen Übergriff seitens der Frau hinter Ihnen. Soweit sind wir uns doch einig?«
»Absolut.« Ich nicke.
»Und genau weil Sie nicht davon überzeugt sind, aus Notwehr gehandelt zu haben, suchen Sie mit aller Gewalt nach weiteren Gründen, warum Sie die Frau angegriffen haben könnten. Das wäre doch eine Möglichkeit. Können Sie das so bestätigen?«
»Ja, das kann ich.« Selbst wenn ich noch etwas ergänzen und ihn vor allem darauf aufmerksam machen möchte, dass er die ganze Sache umdreht: Ich habe den Verdacht, am Abend davor von meinem Lebensgefährten angegriffen worden zu sein. Die Blutergüsse könnten also genauso gut von diesem tätlichen Übergriff stammen. Wenn es tatsächlich so war, hätte ich am Morgen danach nicht aus Notwehr gehandelt. Das ist, was ich denke. Aber das verkneife ich mir. Ich bin nicht gut im Vereinfachen der Dinge, er hingegen schon. Ich beschließe, dass es in diesem Fall besser für mich ist, ihm nichts entgegenzusetzen.
»Schauen wir uns mithilfe der Untersuchungsergebnisse die Fakten etwas näher an: Als die Carabinieri von Aosta am Tatort eintrafen, standen Sie unter Schock. Die Krankenakte des untersuchenden Arztes, der auch Fotos beigelegt sind, belegen zweifelsfrei, dass Sie am Hals Wundmale aufweisen, die durch einen von hinten ausgeführten tätlichen Angriff am selben Tag des Mordes verursacht wurden, und zwar durch eine Frau von kräftiger Statur, wie es auch das Opfer war. Zudem wurde der leblose Körper am Boden in einer Stellung gefunden, anhand derer man unter anderem feststellen konnte, dass sie ihr Gewicht wesentlich in Richtung Hang verlagert haben muss, und zwar nicht in einer natürlichen Haltung, die man automatisch beim Anstieg eines Berges einnimmt, sondern unnatürlich weit nach vorne gebeugt. Folglich hat sie vermutlich jemand Dritten, also Sie, attackiert.
Und als Letztes gibt es da noch die zeitliche Übereinstimmung des Schusses und des Messerstiches, die vermutlich auf dieselbe Reaktion zurückzuführen sind. Oder anders gesagt: auf die Notwehr. Was genau will Ihnen bei alldem nicht einleuchten?«
Ich habe ihm aufmerksam zugehört. »Ich kann mich an keine Hände um meinen Hals erinnern«, antworte ich leise und schaue mir indes die Aufnahmen an, die von mir an jenem Morgen gemacht wurden. »Es muss mir doch wehgetan haben, als sie mich gepackt hat«, murmele ich. »Ich erinnere mich aber nicht daran.«
Er nimmt seinen Vortrag wieder auf, und ich kann in seinen Augen ein triumphierendes Glitzern erahnen. Bevor er erneut zu sprechen ansetzt, bläht er sich auf, holt einmal tief Luft und schießt dann los: »So was nennt man Selektierte Perzeption.«
Pause.
»Die Aufmerksamkeit wird dabei auf ein einzelnes, ungewöhnliches, traumatisches Detail gelenkt. In unserem Fall, vermute ich, ist das die Waffe des Mannes, an die Sie, Vergani, sich ganz genau erinnern und zu der Sie mehrmals angegeben haben, sie sei ›auf mich gerichtet gewesen‹. Der Rest der Szenerie rückt dabei in den Hintergrund, und die Erinnerung speichert falsche Informationen ab. Eine Art Ablenkung, die zu einem vorübergehenden Ausfall des Gedächtnisses führt.«
Dem muss ich etwas genauer nachgehen. Ich kritzele etwas auf einen Zettel. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, und begnüge mich mit einem einfachen: »Und der Abend davor?«
Er meint, das sei ein Problem, das nur mich und meinen Lebensgefährten etwas angehe und in keinerlei Zusammenhang mit dem Fall stehe. Er sagt außerdem, ich würde inzwischen einer Art Selbsttäuschung erliegen, bei der ich den Fokus auf etwas lenken würde, das mich beschäftigt halte und das meine Gewissensbisse und meine Kontrollangst nähre. Aber ich weiß, dass meine Amnesie möglicherweise auch die Ereignisse des Abends vor der Tat einschließt. Und das weiß auch er. Aber das interessiert ihn nicht.
Bevor er meine Wohnung verlässt, reicht er mir ein Hochglanzmagazin, das auf einer bestimmten Seite aufgeschlagen ist. Darauf ist das Foto eines Jungen im Profil zu erkennen, der eine dunkle Kapuzenjacke trägt und mit gekreuzten Beinen auf
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