Ich will dir glauben
meinem Balkon sitzt.
»Passen Sie bei solchen Dingen in Zukunft besser auf, Vergani. Der Hausarrest kann ganz schnell wieder rückgängig gemacht werden. Sie können telefonieren, mit wem Sie wollen oder den Computer benutzen, aber Besucher, die keine Uniform tragen, sind absolut tabu. Sie riskieren, mich in Schwierigkeiten zu bringen und selbst im Gefängnis zu landen.«
Er spricht wie ein Anwalt. Sagt, was er sagen muss. Ich schätze durchaus seine Bemühungen, aus den dunkelsten Untiefen meines Gedächtnisses die noch so kleinsten Gewissheiten ans Tageslicht zu befördern. Um meine Zweifel zu zerstreuen. Um mir etwas Wesentliches an die Hand zu geben, an dem ich mich festklammern kann. Er möchte, dass ich unbeschadet aus dieser Geschichte herauskomme. Während er sich zum Gehen wendet, betrachte ich das Foto von Angelo und nicke. Warum, weiß ich nicht.
»Ja, das hatte ich vergessen. Ich werde mich daran halten«, sage ich, als er schon aus der Tür raus ist. Aus einem bestimmten Grund, den ich besser nicht wissen möchte, bin ich in diesem Augenblick froh, dass ich meinen jungen Freund auf diesem Foto sehe. Da ist er, auf meinem Balkon.
84
Man lernt, jemand zu sein, indem man aufgibt, jemand anderer zu sein. Anna versuchte genau das. Sie wollte sich von der Last, die sie an die Erde kettete, befreien. Von ihrem Körper.
Im Gasthaus Da Edo ist Funi bereits seit geraumer Zeit in ein Gespräch mit der Wirtin vertieft, die ihn von oben bis unten mustert.
Ohne sich davon beirren zu lassen, hakt er weiter nach. »Wie viele Nächte war sie hier bei Ihnen?«
»Eine Woche, glaube ich. Sie können sich ja die Reservierungen ansehen.« Sie weist mit dem lila lackierten, krallenartigen Zeigefinger der rechten Hand auf die Unterschrift im Belegungsbuch.
»Wann hat sie das Gasthaus denn wieder verlassen?« Die Frau schaut genau nach, verschwindet mit einer Entschuldigung für einen kurzen Moment und kehrt sofort wieder zurück.
»Um ehrlich zu sein, kann ich Ihnen das momentan nicht sagen. Mein Bruder muss sich das irgendwo notiert haben, er ist aber gerade nicht da.«
»Richten Sie ihm bitte aus, er möge sich bei mir melden. Ich brauche unbedingt das genaue Datum. War das Mädchen allein?« fragt Funi.
»Ja. Auf ihrem Zimmer war sie immer allein. Manchmal kam sie in Begleitung. Alles Mädchen, wie sie. Oder mit welchen von der Pina-Maggi- Gruppe.«
»Wer ist denn Pina Maggi?«
»Eine Frau, die sich um die in Not geratenen Menschen dieser Gegend kümmert. Sie gibt ihnen Kleidung, Essen, ein Dach über dem Kopf, solche Dinge eben …«
»Wo kann ich diese Frau finden?«
»Zehn Minuten von hier, auf der linken Seite, steht ein altes Bauernhaus. Folgen Sie einfach der Straße rauf zur Basilica. Sie können es nicht verfehlen.« Sie lächelt. »Und wenn Sie schon mal da sind, dann werfen Sie doch einen Blick auf die Klamm im Val dell’Oro, hier gleich gegenüber. Ein echtes Naturwunder!«
»Danke für den Tipp, das werde ich tun.«
Funi hat den Eindruck, als wirke er in letzter Zeit besonders interessant, ja geradezu attraktiv auf andere Menschen. Wenn man verliebt ist, kommt es vor, dass man auf seine Umwelt eine gewisse Anziehung ausübt. Die Wissenschaft macht die Pheromone dafür verantwortlich. Wahrscheinlich sind es eben diese chemischen Prozesse im Inneren des Hauptkommissars, die das Verhalten der reizenden Dame unbewusst steuern. Denn sie will ihn gar nicht mehr gehen lassen. »Wenn Sie möchten, begleite ich Sie«, ruft sie ihm hinterher.
»Danke, das ist wirklich nett von Ihnen. Eine Sache wäre da allerdings noch.« Er überprüft eine Notiz in seinem Block. »Was genau meinten Sie eigentlich mit der Bemerkung ›in Begleitung von Mädchen wie sie‹?«
»Na, Mädchen wie sie eben … Skelette. Sie bestand ja nur noch aus Haut und Knochen.«
85
Pina Maggi ist eine große Frau. Ihre langen glatten Haare, die sie am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, sind von grauen Strähnen durchzogen. Ihr Körper wirkt ausgemergelt, als ob jegliche unnötige Flüssigkeit, jedes unnötige Gramm Fett, jede Andeutung von Fleisch aus ihrem Körper verbannt worden wären. Ihre Gesichtszüge sind markant: ein hervorstehendes Kinn, eine lange, auffallende Nase. Darüber dunkle Augen mit dichten buschigen Augenbrauen. Ihre fahrigen, schwieligen Hände sind ständig in Bewegung. Sie kehrt den Boden, verteilt Aufgaben an einige Mädchen, die, ohne mit der Wimper zu zucken, ihren Anweisungen Folge
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