Ich will dir glauben
nach dem Gefäß. Die verkrustete Erde löst sich vom Blumentopf. Die Stacheln wirken übermäßig lang. Er wird sich gedacht haben, dass die Bedrohung von außen kommt.
»Ich verstehe einfach nicht, dass du gar nichts davon mitbekommen hast.«
Sie zwingt mich, noch einmal darüber nachzudenken. Sechs Monate lang habe ich diese Pflanze tagtäglich angesehen und nichts bemerkt.
Liste: Sehen heißt auch
sich kümmern
aufpassen
bewachen
achtgeben
aufmerksam sein
sich sorgen.
Das ging mir öfters so. Verzwickte und haarige Angelegenheiten, all das, was mir Angst machte, nahm ich immer erst dann genau unter die Lupe, wenn es mir längst aus den Händen geglitten waren. Genau dann, wenn es schon zu spät war.
»Entschuldige«, sage ich. »Es tut mir wirklich leid.« Das ist die Wahrheit.
82
MARIA DOLORES VERGANI : Erinnerst du dich noch, um wie viel Uhr du mich angerufen hast?
LUCA RIGHI : Nein. Ich weiß noch, dass es Abend war, aber nicht die genaue Uhrzeit. Wie geht es dir?
MARIA DOLORES VERGANI : Gut, danke. Ich muss ganz genau wissen, wann du mich angerufen hast. Ich kann mich nicht daran erinnern, an jenem Abend geduscht zu haben. Normalerweise dusche ich morgens. Er hat dir doch gesagt, dass ich unter der Dusche bin, oder nicht?
LUCA RIGHI : Ich weiß nicht mehr genau, Doris. Vielleicht hat er auch gesagt, dass du auf der Toilette bist.
MARIA DOLORES VERGANI : Wenn ich auf der Toilette gewesen wäre, hätte ich das Telefon gehört. Ich kann mich aber nicht erinnern, es läuten gehört zu haben. Absolut nicht.
LUCA RIGHI : Aber warum ist das denn so wichtig für dich? Ich habe dir gesagt, was ich dich damals fragen wollte, und jetzt interessiert mich, was du darüber denkst.
MARIA DOLORES VERGANI :
Der Cursor blinkt.
LUCA RIGHI : Bist du noch da?
MARIA DOLORES VERGANI : Auf welchem Telefon hast du mich angerufen? Festnetz oder Handy?
LUCA RIGHI : Ich glaube, zu Hause. Ich habe dich abends doch immer zu Hause angerufen.
MARIA DOLORES VERGANI : Auf meinem privaten Handy habe ich schon nachgesehen, da ist kein Anruf. Vielleicht auf dem anderen?
LUCA RIGHI : Ich habe bei dir zu Hause angerufen, Doris. Und er ist drangegangen. An das Diensthandy von einem Polizisten würde man doch nicht einfach so rangehen, oder? Selbst wenn er selbst ein Polizist ist. Oder ist das bei euch anders?
MARIA DOLORES VERGANI :
Der Cursor blinkt weiter. Für den Moment hat Maria Dolores keine Antwort parat. Sie bleibt online auf Skype und steht auf. Sie verschränkt die Hände, streckt sie, um sich zu dehnen, und schaut dabei aus dem Fenster. Sie traut ihren Augen nicht, setzt ihre Brille auf. Dann tritt sie ans Fenster, beugt sich raus und sieht zum Himmel hinauf. Es schneit. Große, dicke Flocken. Sie streckt ihren Arm nach draußen, um auf ihrer Handfläche einige Schneeflocken aufzufangen. Es kommt manchmal vor, dass es zu dieser Jahreszeit noch schneit. Im April ist in Mailand schon fast Frühling. Die Knospen an den Bäumen beginnen zu sprießen. Die warme Kleidung ist bereits auf den Dachboden verbannt. Schluss mit dem Winter. Und dann ein erneuter Kälteeinbruch. Der Himmel streikt. Der Versuch, einen startenden Motor abzuwürgen. Das Brummen abzuschalten. Die Menschen zum Innehalten zu zwingen.
MARIA DOLORES VERGANI : Hast du gesehen? Es schneit.
LUCA RIGHI : Ja.
MARIA DOLORES VERGANI : Ob der Schnee wohl liegen bleibt?
LUCA RIGHI : Ich vermute mal.
MARIA DOLORES VERGANI : Er wird alles unter seiner Last erdrücken.
LUCA RIGHI : Das kann dir doch jetzt völlig egal sein. Wann beginnt deine Verhandlung?
MARIA DOLORES VERGANI : Keine Ahnung.
LUCA RIGHI : Sag mir wenigstens, was du sagen wirst.
MARIA DOLORES VERGANI : Zum passenden Moment und nicht über Skype.
LUCA RIGHI : Darf ich dich besuchen kommen?
MARIA DOLORES VERGANI : Ich darf keinen Besuch empfangen.
LUCA RIGHI : Damit meinst du wohl meinen Besuch … Du willst nicht, dass ich dich besuche. Du kannst es ruhig sagen, das macht mir nichts aus.
MARIA DOLORES VERGANI : Entschuldige, es klingelt an der Wohnungstür. Heute habe ich ausnahmsweise mal nicht vergessen, die Tür abzuschließen. Bis später.
LUCA RIGHI : Ich bleibe dran.
83
»Jetzt sagen Sie mir mal ganz genau, an was Sie sich nicht mehr erinnern können und an was Sie sich erinnern möchten.«
Max Nagel beginnt noch einmal von ganz vorn.
Ich konzentriere mich. »Mir will nicht mehr einfallen, was genau am Abend vorher passiert ist. Was genau im Wald geschehen ist. Und was
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