Ich will doch nur küssen
haben wollten, stürzte sich Ethan in die Arbeit. Seine Sekretärin Amelia schob Überstunden, um ihren Fehler wieder gutzumachen. Ethans Rechtsanwälte hatten bereits ein Gerichtsverfahren gegen seinen Expartner Dale eingeleitet, und die Regierung hatte Ethans Angebot angenommen.
Es hätte also alles wieder seinen gewohnten Gang gehen können.
Doch Ethan konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Nicht, wenn Faith ihn nicht zurückrief und Tess sich in ihrem Zimmer verschanzte. Gegen zehn war er schließlich völlig frustriert und beschloss, seine Probleme aktiv anzugehen – wenn es sein musste, auch mit einer ordentlichen Portion Nachdruck.
»Tess!«, brüllte er vom Fuße der Treppe nach oben.
Zu seiner Überraschung schwang sogleich ihre Zimmertür auf.
»Komm runter. Ich möchte in die Stadt fahren«, rief er.
»Bin ja schon da!« Sie kam die Treppe hinunter, wobei sie bei jedem Schritt mit ihren schweren Stiefeln aufstampfte.
Ethan starrte sie entsetzt an. »Was zum Geier hast du denn da an?« Beim vertrauten Anblick ihrer Militärjacke wurde ihm flau.
»Wonach sieht es denn aus?« Sie zog die Jacke enger um sich.
Ethan schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich hätte das Ding verbrennen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
Das trug ihm einen bitterbösen Blick aus ihren schwarz umrahmten Augen ein. »Lass verdammt noch mal die Finger von meinen Sachen!«
Ethan kam es so vor, als hätte er ein Déjá-vu – der alte Look, die Aggressivität, das Gefluche.
Er lehnte sich an das Geländer und musterte Tess vorsichtig, wohl wissend, was die Verwandlung ausgelöst hatte. »Lass mich raten: Du hast meine Auseinandersetzung mit Faith gehört und bist jetzt wütend auf mich, weil ich sie nicht zurückgehalten habe. Aber nur zu deiner Information: Ich wollte nicht, dass sie geht.«
Sie schwieg, und er fragte sich, ob sie vielleicht aus einem anderen Grund wütend auf ihn war. »Bist du sauer, weil wir noch immer nicht am Meer waren?«
Sie verdrehte die Augen und gab ihm auf ihre alles andere als subtile Art zu verstehen, dass er ein Idiot war.
»Was hast du dann?«, schrie er frustriert. Doch Tess sagte nichts. Wie gut, dass sie heute Nachmittag einen Termin bei ihrer Therapeutin hatte; vielleicht schaffte die es ja, zu ihr durchzudringen, nachdem Tess beschlossen hatte, Ethan mal wieder wie Luft zu behandeln.
Auf dem Weg in die Stadt saß Tess angespannt und übelst gelaunt neben ihm im Auto. Ethan hatte vor, zu Faith zu fahren, um festzustellen, ob man sich wenigstens mit dem anderen weiblichen Wesen in seinem Leben wieder vernünftig unterhalten konnte.
Doch als sie durch die Hauptstraße fuhren, rief Tess plötzlich: »Bleib stehen!«
Er musterte sie argwöhnisch, dann steuerte er einen freien Parkplatz am Straßenrand an. »Was ist los?«
»Lass mich raus. Ich brauche etwas aus der Apotheke.«
»Was?«
»Geht dich gar nichts an.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich zum Fenster.
Er überlegte kurz, ob er Tess in Serendipity allein herumlaufen lassen konnte oder ob er sie nicht doch lieber mitnehmen sollte, wenn er gleich den Versuch startete, Faith umzustimmen, damit sie zu ihnen zurückkam.
»Sei vorsichtig. Ich gehe jetzt zu Faith nach Hause, und wenn sie dort nicht ist, in ihren Laden, der hier gleich um die Ecke ist. Wenn du zuerst fertig bist, kommst du einfach rüber, wenn nicht, hole ich dich hier wieder ab.«
Tess stieg wortlos aus und knallte die Tür bedeutend fester als nötig zu.
Er wusste gar nicht, warum er zunächst Bedenken gehabt hatte. Tess war in Serendipity völlig sicher – nur ob Serendipity sicher vor ihr war, das stand auf einem anderen Blatt.
Faith schlenderte gemächlich durch die Gänge der Apotheke und konsultierte immer wieder ihre Einkaufsliste, während sie die benötigten Artikel zusammensuchte. Sie hatte es nicht eilig, zur Arbeit zu kommen. Das Telefon schwieg seit dem Interview ihres Vaters beharrlich, und sollte es wider Erwarten doch klingeln, dann war ihre Mutter zur Stelle, um den Anruf entgegenzunehmen. Lanie hatte um neun Uhr morgens vor dem Laden gestanden, bereit, ihren ersten Job anzutreten. Bei ihrem Anblick hatte sich das Herz in Faiths Brust schmerzhaft zusammengezogen. Sie war stolz auf ihre Mutter, und zugleich tat sie ihr leid. Faith konnte sich lebhaft vorstellen, wie viel Überwindung es Lanie gekostet haben musste, sich in der Stadt zu zeigen, und wie schwer es ihr fallen musste, für ihre Tochter zu
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