Ich will doch nur normal sein!
passieren würde, wenn er mich in die Finger bekommt. Hätte ich es mir nicht denken müssen, was passiert, wenn ich ihn allein antreffe?
Wie doof muss man denn sein, um so etwas nicht zu ahnen? Ich ahnte es nicht. Dachte überhaupt nicht daran und er sagte, ich wolle es und tat es, so wie immer. Ich ließ es geschehen, konnte mich wieder einmal nicht wehren. Beim letzten Mal war ich 23 Jahre alt und ich wehrte mich nicht, wagte es nicht, auch nur einen Ton dagegen zu sagen. Ausgeklinkt, abgeschalten. Ich war nicht da, aber mein Körper und mein Körper war besudelt, wieder einmal von diesem Dreck, ich werde mich lange mit der eigenen Schuld herumschleppen. Ich hab es so verdient! Ich habe nichts gesagt, nichts dagegen getan und fühle mich deshalb schuldig.
Schuldig, weil ich hingefahren bin.
Schuldig, weil ich hätte weglaufen können.
Schuldig, weil ich mich nicht dagegen gewehrt habe.
Schuldig, weil ich stark und erwachsen bin, um mich wehren zu können.
Schuldig, weil ich kein kleines Kind mehr bin, das ausgeliefert ist.
Aus all diesen Gründen werfe ich mir vor, selbst daran schuld zu sein, dass es wieder passiert ist und wieder passieren konnte. Es musste nicht wieder passieren, es war meine Schuld! Ich schämte mich über 20 Jahre lang dafür, dass ich mich nicht gewehrt habe. Als ich dorthin fuhr, habe ich nicht im Mindesten daran gedacht, dass dies wieder passieren könnte. Was bisher passiert ist, war so weit weg, so unwirklich, sosehr verdrängt, dass es mich keine Gefahr ahnen ließ. Jetzt kann jeder sagen, die hat doch einen Schuss weg, aber es ist so, ich habe es so sehr verdrängt, dass es fast nicht mehr wahr war. Es ist alles wie weg gewesen.
Das klingt bestimmt so, als wollte ich mich herausreden. Nein, das will ich nicht. Dafür schreibe ich es jetzt nicht auf, um mich zu belügen. Man kann sich wirklich die Welt so zurecht denken, dass sie gut ist und auch der eigene Vater gut sein muss. (Er war es nie und wird es nie werden.) Aber ich habe wirklich gedacht, wenn er merkt, dass ich im Leben etwas erreicht habe, dann wird er mich nicht mehr so behandeln, dann wird er stolz sein und mich vielleicht wirklich wie eine eigene Tochter behandeln. Ja, ich war schon sehr naiv in meiner Hoffnung. So ungefähr: „Tu ich dir nichts, dann tust du mir nichts.“ Es war so, ich habe es nicht geahnt, weil es nicht mehr bewusst in meinem Kopf war, weil ich es so verdrängt hatte.
Ja und das, was nun passiert ist, habe ich auch wieder verdrängt, wollte es vergessen, wollte meine Schuld vergessen. Warum bin ich hingefahren? Ich wollte, dass er mich akzeptiert. Ich habe studiert, aus mir ist etwas geworden und das wollte ich ihm sagen und ich habe mir gewünscht, dass er mich endlich akzeptiert und nicht mehr sagt, ich sei der letzte Dreck. Ich wollte es ihm einfach beweisen, dass ich es geschafft habe, obwohl er mir nie etwas zugetraut hat. Deswegen fuhr ich hin, deswegen geriet ich wieder in die Falle.
Aus mir ist etwas geworden, obwohl mir mein Vater immer sagte, ich sei schlecht, sei dumm und werde als Nutte in der Gosse enden. Ich habe es geschafft und wollte ihn nun wissen lassen, dass er nicht Recht hat und dass ich es ohne seine Hilfe geschafft habe. Ich wollte ihm beweisen, dass er nicht Recht hat!
Jürgen erfuhr auch das nie – niemand erfuhr es. Er hat nie erfahren, dass ich zu meinem Vater gefahren war und nie von diesem Ereignis erfahren. Für diesen Tag schäme ich mich sehr. Ich kam mir vor, als hätte ich ihn betrogen. Als wäre ich fremdgegangen. Mein Vater hat nie gesagt, ich soll die Klappe halten und nichts sagen. Er war sich so sicher, dass ich schweige, weil er ja immer mir die Schuld gab und ich habe sie angenommen.
Ich habe mein ganzes beschissenes Leben lang geschwiegen. Jetzt weiß ich es besser. Nur durch mein Schweigen und dadurch, dass sie mir die Schuld daran zuwiesen und es schafften, dass ich mich schämte, haben sie sich in Sicherheit wiegen können und mir fast 20 Jahre lang Gewalt und Missbrauch antun können.
Mit Jürgen habe ich 7 Jahre lang in einer Lebensgemeinschaft gelebt und es war alles schön. Ich fühlte mich sicher, ich fühlte mich wohl. Bis ich dann den Wunsch hatte, zu heiraten und ein Kind zu bekommen – ich hatte das schon vorhin angesprochen. Das ist doch normal, sich ein Kind zu wünschen. Inzwischen war ich 26 Jahre alt und wünschte mir sehnlichst ein Kind zu haben. Ich träumte eben von einer richtigen kleinen Familie. Mein Wunsch begegnete mir
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