Ich will doch nur normal sein!
undankbar, weil ich aus der Klinik raus und weg bin und alles schlecht gemacht hätte. Das tut mir weh, dass sie so von mir denkt, heute noch ist das schwer zu ertragen, denn ich möchte nicht, dass sie so von mir denkt. Ich habe nichts schlecht gemacht. Habe ich wirklich nicht. Alles, was ich konnte – kochen, putzen, nähen, stopfen, stricken, sticken – sie hat es mir beigebracht und dafür bin ich ihr dankbar. Oft habe ich zwar, wenn ich allein war, geheult, weil ich lieber etwas anderes gemacht hätte, so wie die Mädchen aus meiner Klasse damals.
Aber dafür habe ich all das gelernt und konnte so ohne weiteres den Haushalt von Jürgen in Ordnung halten. Waschen und Kochen waren kein Problem. Seine Schwester, die in Dresden wohnte, brachte dann auch sofort Jürgens Großmutter, die bereits 93 Jahre alt und pflegebedürftig war zu uns. Jetzt war ich ja da und konnte das machen. Die Schwester in Dresden ging nicht arbeiten, ich aber ging arbeiten und später dann nahm ich noch ein Direktstudium auf. Die Großmutter blieb bei uns bis sie starb. Es war schrecklich, den ganzen Tag musste ich hinter ihr her putzen, denn beim Laufen verlor sie Pipi unter sich. Sie war alt, sie konnte ja nichts dafür, aber es war viel Arbeit, doch ich habe es geschafft.
Ich war damals gerade mal 19 Jahre alt, ging arbeiten, versorgte die Oma und hatte den Haushalt ganz gut im Griff. Es lief gut. Ich hatte keinen aus meiner Verwandtschaft mehr am Hals, der „etwas“ von mir wollte, es war endlich mal vorbei, ich hatte Ruhe vor all denen.
Jetzt war es soweit, ich hatte ein normales Leben, was wollte ich mehr? Ich dachte, jetzt wird alles anders. Zum ersten Mal fühlte ich mich so etwas, wie glücklich oder frei oder sicher vor denen. Es war ein gutes Gefühl. Alles war jetzt ordentlich, so wie es sein sollte. Keiner wusste, was ich für eine bin und ich war endlich raus da.
Nach außen hin konnte nichts mehr passieren, es war mein Freund, der mit mir schlief und nicht mehr mein Bruder, Opa oder Vati. – es war mein Freund!
Ich hatte also jetzt einen Freund, ein eigenes Leben – kein Stiefvater, kein Vater oder sonst wer kam an mich heran. Nur noch Jürgen. Ich war frei, ich brauchte mich nicht mehr verstellen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Jürgen hat auch nichts gemerkt und auch nichts gesagt. Im Bett habe ich mich verhalten, wie er es erwartet hat, denn er hat mich nie kritisiert oder etwas gesagt. Empfinden konnte ich aber nichts.
Ich war ihm dankbar für das, was er für mich getan hat, als ich im Krankenhaus war und das ich jetzt nicht mehr zu Hause sein musste. Ich gab mir Mühe, dass er immer zufrieden mit mir war.
Jürgen war 12 Jahre älter als ich und geschieden. Mich hat nie interessiert, warum. Es hätte mich interessieren sollen, das hätte mir viel Schlimmes erspart.
Ja, es lief so gut, dass ich sogar die Kraft hatte, von 1973-1976 ein Direktstudium in Betriebsökonomie zu absolvieren. An den Wochenenden fuhr ich heim, machte den Haushalt, kochte, wusch die Wäsche – ich hatte viel Kraft und Energie. Ich fühlte mich zu dieser Zeit so frei von der Vergangenheit. Das Studium schaffte ich ohne Unterbrechung, ohne Klinikaufenthalt, ohne Psychiatrie, denn ich hatte ja Jürgen, meinen Lebensgefährten.
Das Andere war tief in mir vergraben, so als wäre es nie passiert. Ich lebte jetzt so, wie die Anderen und fühlte mich auch in Sicherheit. Auf Arbeit lief dann auch alles super. Ich kam voran, wurde Chefin der Materialversorgung in unserem Kombinat, war anerkannt und fühlte mich auch so. Ich war nicht mehr der letzte Dreck.
Alles war gut, bis ich einen Fehler machte und einen zweiten. Ich wollte, dass wir heiraten, damit ich auch ganz „sicher“ bin und ich wünschte mir ein Kind. Wieso denke ich gerade jetzt daran?
Ich schlief wirklich das erste Mal mit Jürgen, als er mich aus dem Krankenhaus zu sich nach Hause holte. Da tat ich so, als sei es das erste Mal für mich, dass ein Mann so etwas mit mir macht. Er hat es mir abgenommen und glaubte, er sei der erste Mann in meinem Leben. Er war auch ein riesiger Kerl, 1, 98 groß und so war es kein Wunder, dass er mich etwas verletzte beim ersten Verkehr und darum dachte er, ich sei noch sauber. Ich habe nichts gesagt, habe ihn in dem Glauben gelassen. Was hätte er getan, wenn ich all das erzählt hätte von mir? Was hätte er mit mir getan und wohin hätte ich denn gehen sollen, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte? Ich war so froh, unentdeckt
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