Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
St.
Moritz. Oft kommt es des Geldes wegen zu handfesten Zerwürfnissen zwischen den Brüdern Henri, Alfred, Max und Louis. Fred finanziert seine Extravaganz und amourösen Eskapaden gern mit Schecks der gemeinsamen Produits textiles Sa. Wenn der Prokurist, der fromme Monsieur Samuel, auf Geheiß der Direktion – mit fast tonloser Stimme – Inkasso bei Fred fordert, brechen Galgenfristen und Eiszeiten an, die Brüder bestrafen Fred monatelang mit Schweigen, was sie aber nicht hindert, auch weiterhin gemeinsam beste Geschäfte zu machen.
1932 zeigt das Modeheft Vogue den eleganten Alfred im weißen Smoking mit Bugatti auf der Titelseite. Die erfolgreichen Söhne kaufen den Eltern Mitte der Zwanzigerjahre ein Haus mit Seeblick in Zürich. Bald nach dem Einzug sterben Vater und Mutter kurz hintereinander. Die Schwestern Irma und Jeanette ziehen ein, bleiben ledig und finden ihre Lebensaufgabe: die Brüder aufzuwiegeln, ihnen die Bräute madig zu reden, um sich selbst Samstag für Samstag in der Synagoge in Gottgefallen zu ergehen. Die Jüngste, die lebenslustige Hertha, stirbt jung an Krebs.
1934 begegnet Alfred Heim im Nachtzug von Basel nach Paris der blonden, sehr attraktiven Ilse Winter. Er flirtet mit ihr, will sie wiedersehen, und als sie ihm sagt, sie sei Jüdin, ist er hin und weg. Sie sieht aus wie eine seiner vielen »Schicksen«, ist aber keine – da werden seine Geschwister staunen, ein Coup! Doch daraus wird zunächst nichts, Ilse lässt ihn zappeln. Noch lebt sie mit Walter Mehring im Pariser Hôtel de l’Univers . Fred wird auf seinen Auftritt in Ilses Leben noch zwei Jahre warten müssen.
Ilse und Alfred 1936
Fred Heim kommt jeden Sonntagvormittag Punkt halb zehn in die Dolderstrasse 111, um mich abzuholen. In meinen frühen Erinnerungen fährt er ein dunkelblaues Cabriolet von Delahaye, dessen Handbremse sich einmal löst, während wir um Punkt zwölf Uhr zu Mittag essen. Der Wagen saust die sehr steile Straßehinunter und kommt an einem Pilaster zum Stillstand, Totalschaden. Heim trägt es mit weltmännischer Gelassenheit. Ein paar Jahre später fährt er mit der »Göttin«, dem Citroën DS
19, vor. Während er noch auf die Auslieferung des ersten Fahrzeugs gewartet hatte, hatte er aus Ungeduld eine zweite Bestellung aufgegeben. So stehen zu seiner eigenen Überraschung zwei Citroëns in der Garage, die er abwechselnd fährt und die ich nur dadurch auseinanderhalten kann, dass ich kleine Zettelchen im Handschuhfach verstecke.
Jeden Sonntag fahren wir zum Hauptbahnhof. Alfred kauft am Kiosk die Sonntagsausgabe der Zeitung La Suisse und nebenan im Zigarrengeschäft von Herrn Schwarzenbach zwei frische Churchill Morning Cigars, die er zur Prüfung sorgsam zwischen Daumen und Zeigefinger rollen lässt, und mehrere Päckchen Laurent Filtre, elegante, flache Orient-Zigaretten, auf deren Packung das Profil eines Paschas oder eines Beys geprägt ist – seine Tagesration. In der Haupthalle, ein paar Schritte weiter, stehen zwei rote, mannshohe Guckkästen mit wöchentlich wechselnden Stummfilmcartoons von Disney. Zu Beginn unserer Bahnhofsbesuche muss Alfred mich noch hochhalten, damit ich auch auf die kleine Projektion schauen kann. Später reicht der Tritt auf das Metallpodest, von dem ich alles zu Gesicht bekomme. Dieses Sonntagsritual dauert bestimmt an, bis ich zwölf bin, und bis dahin gibt es auch die Filmkästen. Zu dieser Zeit fährt Fred einen englischgrünen Jaguar mit Speichenrädern und champagnerfarbenem Lederinterieur.
Zurück in der Dolderstrasse wird gegessen. Alfred schlingt, er ist immer nach wenigen Minuten fertig und sehr eilig, um bei seinen Rommé-Spielern im Café Odeon (erste Etage) noch einen Platz am Tisch zu bekommen. Ilse nutzt die Hast und stellt sich ihm auf der Schwelle zur Haustür verlässlich in den Weg. Sie will Geld. Es folgt ein lauter, hässlicher Streit. Sobald das losgeht, renne ich zum Radiogerät und drehe es laut. Meist kurz vor halb eins, Zeit der sonntäglichen Glocken der Heimat , die alles übertönen. Mit Beginn der Nachrichten ist Fred raus, und Ilse und ich setzen uns in Ruhe wieder an den Esstisch. Auf ein Klingelzeichen bringt die Italienerin oder Spanierin aus dem Souterrain nochmals den Hauptgang aus der Küche, meist Huhn, das sie wegen der zu erwartenden Zwischenfälle vorsorglich warm gestellt hat.
Dass Fred schon damals mit seiner schönen und viel jüngeren Lebensgefährtin Andrée einen gemeinsamen Haushalt führt, entdecke ich
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