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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Schauspielerlokal in der Kantstraße, und da war ich also mit Mehring. Das muss etwa 1931 gewesen sein. Da kam an einem Abend – ich hatte das Wunschkleid an von mir, ein schwarzes Trikotkleid mit einem rosa Blüschen drunter, und einen kessen Strohhut auf – und es kam herein der Dramaturg von Erwin Piscator, Felix Gasbarra.
    Bevor er Dramaturg war, war er Chefredakteur der Roten Fahne . Und das war Liebe auf den ersten Blick. Ich verliebte mich Knall auf Fall, und es ist die größte Beziehung meines Lebens geworden.
    Er war ein überzeugter Kommunist und hielt jeden Abend »Zelle«. Er war verheiratet mit einer Bühnenbildnerin und hatte zwei Töchter, Claudia und Lydia. Er besuchte sie jeden Samstagnachmittag, aber eine Ehe war nach der kommunistischen Doktrin sowieso gegenstandslos. Er fuhr zu einem Weltkongress nach Moskau, und als er zurückkam, sagte er mir: »Ich habe dir ein Paar russische Stiefel mitgebracht, Jo-Jo« – so nannte er mich. »Wenn wir hier die Revolution haben, ziehst du diese Stiefel an!« Wir trafen uns meist bei Dobrin im Tiergarten. Ich nannte ihn Molz, von Komsomolz, und er nannte mich Jo-Jo.
    Und an dem Tag, als die Nazis an die Macht kamen – ich war mit Henny Porten in Holland auf Tournee –, musste Gasbarra seinem Papagei Lora eigenhändig den Hals umdrehen. Der saß tagsüber in der Yorckstraße auf dem Fensterbrett und krächzte pausenlos: »Rotfront« – ja, so war das damals!

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    Die Schuhkartons meiner Mutter
    Im Jahr nach meiner Bar-Mizwa. Ein Nachmittag in der Dolderstrasse 111 im Mai oder Juni, die Fenster stehen weit offen. Tschibi räkelt sich auf einem Sonnenfleck am Rand des grünen Sofas. Die Wohnung ist still vertraut. Ilse ist nicht zu Hause, sie arbeitet jetzt tagsüber in der Redaktion. Ich habe einen langen, freien Nachmittag vor mir – Zürich 1964, auf dem Hügel hoch über der Stadt. Von Nahem – nur das Holpern und Surren der roten Drahtseilbahn im Zehn-Minuten-Takt; von Ferne – Hundegebell aus dem Wald jenseits der Straße.
    Ich langweile mich. In der Unentschlossenheit, was zu tun, streiche ich erst mit den Augen, dann mit der Hand über die vielen Buchrücken in Ilses Regalen, nicht zum ersten Mal. Manchmal findet sich ein Titel, der neugierig machen kann, oder ein Album mit Erotika aus dem 18.

Jahrhundert. Stiche geiler Träume vollbusiger Schäferinnen, die am Waldrand nach einem festen Aaronstab greifen, oder kleine kecke Käfigaffen, die es vor ihrem verzückten Publikum treiben. Diesmal scheint kein Neuzugang dabei zu sein oder eine Ausleihe, die ich noch nicht erkundet habe. Ich kenne die Bibliothek sehr gut, denn ich achte immer darauf, dass in dieser Wohnung keine Geheimnisse gehortet werden und nichts ohne mein Wissen hier Zuflucht finden kann. Ich bin nicht neugierig, ich bin pedantisch undherrschsüchtig. Vor allem kann ich Ilses permanente Sucherei nicht ertragen. Sie verlegt alles, dauernd und meist unerwartet, vor allem ihre Brillen. Ich habe viel Übung, alles in dieser Wohnung zu finden, denn es geht um die Macht am Ort.
    Ich kann Ilse bestrafen, indem ich weiß, wo die Autoschlüssel oder die Hundeleinen oder das Portemonnaie zuletzt gesehen wurden. Ich kann ganz nach Belieben rettender Held oder Erpresser sein. Die Regel ist: Sie sucht, ich finde. Es ist bitterer Ernst. Es ist die Art, sich in unserer Ehe das Leben schwer zu machen. Ilse ist der festen Ansicht, ich würde alles mit Absicht verstecken, denn für so schusselig hält sie sich nicht. Sie ist es aber doch, und noch viele Jahre lang ruft sie mich immer wieder in Not an, um zu fragen, ob ich eine Ahnung habe, wo ihr Schlüssel sein könne. Auch dann noch, als sie weit über achtzig ist und ich in Köln lebe. Heute bin ich der Sucher, und mir wäre es ganz lieb, jemand würde für mich verstecken – aber eben auch finden!
    An diesem Nachmittag im Mai oder Juni mache ich eine Entdeckung hinter Ilses Buchrücken, die mir keine Ruhe mehr lässt: zwei Schuhkartons ohne Deckel überfüllt mit Papier und kleinformatigen Fotos. Ich muss etwa zwanzig Bände herausräumen, um an die Kartons zu kommen. Sie sind grau und tragen den Schriftzug der Bally-Schuhfabrik in Schönenwerd. Dass Ilse die Briefe ihrer Mutter im Schuhkarton aufbewahrt hat, dass Schuhe ein wichtiges Thema in den Briefen von Marie in Berlin an Ilse in Basel gewesen sind und ich heute weiß, dass Marie mit Bally-Schuhen an den Füßen in den Tod geschickt wird – das alles wird nun Zusammenhang, nach

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