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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Tag meinen Freundinnen erzählt – meiner Mutter habe ich es natürlich nicht gesagt.
    Bühnenfoto von Ilse Winter, 1931
    Im November 1963 muss ich Bar-Mizwa werden. Ich habe schreckliche Angst davor, meinen Wochenabschnitt singen zu müssen in einer Sprache, die ich nicht kenne und die in meinen Ohren keine Bedeutung hat. Ich fürchte mich davor, jeden Sonntagvormittag in der Wohnung des strengen Oberkantors Neu vorsingen zu müssen und seinen Unmut über mich zu ertragen. Ich habe Angst davor, meinen religiösen Vater vor versammelter Gemeinde zu blamieren, er würde keine zweite Chance bekommen, ich bin der einzige Sohn.
    Am Abend zuvor muss ich früh ins Bett gehen, über dem Stuhl hängt schon das weiße Hemd. Ich höre aus Ilses Transistorradio unter der Bettdecke ein Hörspiel. Plötzlich wird das Programm unterbrochen, und eine ernste Stimme meldet das Attentat auf den amerikanischen Präsidenten, dann Trauermusik. Ich bin elektrisiert, stürze ins Wohnzimmer, sehe Ilse auf ihre Remington starren und schreie: »Kennedy ist tot!« – Dann renne ich im Pyjama auf die Straße und rufe immer wieder: »Kennedy ist tot, Kennedy ist tot!« – Es ist neun Uhr abends, kein Mensch ist unterwegs, niemand hört mich, unfassbar!
    Und dann die Hoffnung, die Bar-Mizwa könnte verschoben werden – die Ermordung des amerikanischen Präsidenten wäre doch Grund genug, wer will da noch einen kleinen Buben stammeln hören. Doch alles geht seinen Gang, und wie von fremder Hand gelenkt geht am Samstag meiner »Mannwerdung« alles gut. Ich bin in Trance und erwache erst, als der Rabbiner, der strenge Doktor Taubes, mich in seinen weiten Gebetsschal einhüllt, um mich zu segnen. Dass dieser Taubes einen Sohn hat, der als linker Religionsphilosoph in Berlin an der Freien Universität doziert und sich dort mit der Wirkungsgeschichte Stefan Georges befasst, füge ich erst fünfzig Jahre später in den Kreislauf meines Vorlebens ein. Bedenke ich es heute, so wird meine Mutter, die an diesem Tag auf der Empore der Zürcher Synagoge sitzt, von einem Mann Stefan Georges gerettet; dies sollte auch meiner Großmutter widerfahren, und jetzt stehe ich unter dem Wüstenzelt eines Rabbiners, der seinen Sohn Jakob an die Epigonen »gegeben« hat – Lebenswege.
    Rabbiner Taubes macht mich vor Gott zum Mann, wobei er mit uraltem Spruch einen fürchterlichen Mundgeruch verströmt. Eine Unendlichkeit verstreicht, bis er mich innig auf die Stirn küsst und seine Hand zum Segen auf meinen Kopf legt. Ich bin frei – aber ein Mann? Danach wird mein Vater zur Thora gerufen: Avraham ben Meyer.
    An diesem Tag entdecke ich zum ersten Mal Andrée, die Schöne von Alfred Heim, auf der Empore. Sie steht neben den vertrockneten Gralshüterinnen, den Fräuleins Irma und Jeanette Heim. Eine elegante, auffallend strahlende Frau. Sie liebt diesen Mann, der ihr kein gemeinsames Kind erlaubt und sie nie heiraten wird. Sie bringt dem Clan ihr Lebensopfer, um mit Fred sein zu können. Wenn ich damals geahnt hätte, was ich heute weiß, kein Ton hätte sich an diesem Samstag im November 1963 in meiner Kehle geformt.
    Nach dem Gottesdienst wird im koscheren Restaurant Bermann gegessen. Ich darf ein paar Freunde einladen, bekomme Geschenke und schlechtes Essen, völlig gleichgültig, an diesem Tag gibt es nur das Gesprächsthema: Kennedy.
    Am Sonntag danach schickt mich Alfred zu Oberkantor Neu. Ich soll ihm ein Kuvert bringen und mich für den guten Unterricht bedanken. Neu entreißt mir das Kuvert unter der Wohnungstür und verschwindet. Kurz darauf stellt er sich lässig neben mich, wie ein älterer Freund, der gleich mit einer Eroberung prahlen wird. Die Zuwendung im Briefumschlag gibt Anrecht auf Zusatzinformationen. »Glaube den Christen kein Wort, eine Jungfrau – nu, du weißt doch – kann keine Kinder kriegen, nicht mal einen Sohn Gottes. Die Christen behaupten seit fast 2000 Jahren das Gegenteil. Sie lügen! Glaub ihnen kein Wort. Wir Juden reden keinen solchen Schmuh nicht – und vergiss nicht, Tefillin zu legen!« Dann gibt er mir einen Klaps auf die Wange, und raus bin ich – noch immer ein Bub, aber mit Bar-Mizwa!
    Ich habe keine Ahnung, was Neu »verraten« hatte. Ilse hatte auch dieses Thema ausgespart. Später drückt mir die in Männern versierte Mutter ein Buch in die Hand: »Lies!« Doch da hatte mir die Spanierin im Souterrain schon längst auf die Sprünge geholfen.

    FRAGMENTE VIII

    Schwannecke war das Berliner Künstlerlokal –

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