Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
erst die Älteste verheiratet werden. Er beauftragte einen Schadchen, den Ehegatten für Mieze zu suchen. Unter den Kandidaten wählte er den jungen Kaufmann Felix Winter aus Frankfurt.
Felix war Verkäufer in einem Möbelgeschäft, so richtete ihm Großvater eine Möbelfabrik in Berlin ein und gab dem jungen Paar eine Wohnung in Berlins goldenem Westen, in der Hardenbergstraße, in einem Haus, das ihm gehörte. Mutti hatte als Kindermädchen eine Spreewälder Amme engagiert.
Sie hieß Nanna, und jeden Morgen ging sie mit mir in den Zoo. Ich war ein lebhaftes und ungehorsames Kind, und wenn sich Nanna nicht mehr zu helfen wusste, rief sie den Wärter Petrus, einen bärtigen Mann mit freundlichem Gesicht: »Wenn dat kleene Mamsell nicht folgt, sperr ich ihr in den Käfig mit die Biberratten.« Brüllend flüchtete ich unter Nannas Rock, und dann gingen wir in die nahe Waldschänke , wo Mutti mit Grete Ucko, Lotte Sachs oder Marta Baum Kaffee trank, und ich bekam einen Negerkuss.
1914 wurde Vati eingezogen. In unserer Wohnung bekamen wir Einquartierungen. Einen Major, der mir wie ein Märchenprinz vorkam in seiner glitzernden, ordengespickten Uniform. Mutti strickte Militärsocken, sehnte sich nach ihrem Felix und flirtete ein bisschen mit dem Herrn Major.
Im Zoo war die große Kolonialausstellung zu sehen. Farbige, Frauen, Männer, Kinder in ihren afrikanischen Trachten saßen hinter Gittern wie wilde Tiere und wurden von der Menge der Besucher bestaunt, und manche wollten ihnen Erdnüsschen durch die Gitterstäbe geben. Der Eindruck vom weißen deutschen Herrenmensch und dem schwarzen Underdog ist mir unvergesslich.
Zu den beständigen Berliner Boten gehört an der Dolderstrasse auch die Wienerin Maria Schanda. Maria ist als junge Schauspielerin Anfang der Dreißigerjahre nach Berlin gezogen. Dort lernt sie Ilse an der Schauspielschule des Deutschen Theaters kennen. Ilse ist temperamentvoll und sehr sexy und wird schnell für den Film entdeckt. Maria muss sich im Fach der Tragödin hocharbeiten und viel mehr leiden als die lebenslustige Freundin. Das hat Maria keine Ruhe gelassen, und sie erwähnt es immer wieder – auch mit spätem Neid.
Die beiden Frauen stehen nie gemeinsam auf der Bühne, doch sie haben Erinnerungen – an die Mitschülerinnen, an die unzähligen Theaternächte in der Friedrichstadt, an den Dreigroschenkeller in der Kantstraße, Ilse an Fritz Kortner im Separee bei Horcher oder an den Tiergarten, wo bei Dobrin alle Russen verkehren. Sie schwärmen von Elisabeth Bergner und Karl Kraus, von ihren ersten Auftritten mit O.
E. Hasse oder Henny Porten, Vorsprechen, Probeaufnahmen, Träume … Maria kann den aus Wien stammenden Regiestar Max Reinhardt, den alle vergötterten und bei dem sie gelernt hatte, wunderbar imitieren, und Ilse erzählt immer wieder unter Lachtränen die eine Geschichte, wie sie von Reinhardt persönlich bei seiner letzten Berliner Fledermaus von der Bühne gefegt worden ist.
FRAGMENTE IV
In der Fledermaus hat man einige mitmachen lassen. Ich war da auch, zum Entsetzen vom ganzen Chor, weil ich einfach nie in den Takt kam. Also das ging nicht, musste da raus. Dann haben sie mir sogar eine stumme Rolle gegeben, eine Hanakin – ein Bauernmädchen mit einem hübschen Kostüm, und ich musste zu Rosalinde sagen: »Noch eine Tasse Schokolade, gnädiges Fräulein?« Und dann war Reinhardt zum ersten Mal auf der Probe, und er sieht mich da: »Noch eine Tasse Schokolade …«, und Reinhardt ruft: »Nehmt mir doch diesen Trampel weg!« – Das war ich! Damit war ich auch mein hübsches Kostüm los. Das war mein Erlebnis mit Reinhardt in der Fledermaus !
Diese Szene mit den verteilten Rollen von Maria als Reinhardt und Ilse als Ilse habe ich mir immer wieder gewünscht: »… ein Tässchen Schokolade …« Im Lauf der vielen Besuche von Maria wird die Anekdote immer opulenter, immer neue Namen kommen hinzu, und irgendwann stürzt sich der große Professor Reinhardt aus lauter Verzweiflung über das Fräulein Winter über die Brüstung der Proszeniumsloge. Ich bin begeistert und applaudiere so lange, bis Maria nochmals vor die Bettlaken – den Vorhang – tritt, um sich als Theaterdirektor beim Publikum für den Zwischenfall zu entschuldigen. Ich johle vor Begeisterung.
Maria ist den ganzen Krieg über in Berlin beim Theater geblieben. Sie sieht die Stadt brennen und erlebt die Feuerstürme. Davon erzählt sie mir später auch. Es sind ganz andere, schreckliche Bilder als
Weitere Kostenlose Bücher