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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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die, die Ilse zu entwerfen weiß, Bilder, die Ilse nicht kennen kann, denn Ilse hat Berlin nach einem letzten Besuch 1934 für immer verlassen.

    FRAGMENTE V

    Ich war wohl so etwas wie eine »Bilderbuch-Berlinerin«, sehr lebendig, schlagfertig, an allem interessiert, ganz unabhängig, ohne materielle Sorgen trotz wenig Geld. Ein Mädchen, das ganz im Augenblick lebte, heute würde man sagen: emanzipiert. Ich war in der Cecilienschule, einer Mädchenschule natürlich, und da waren wir 18 jüdische Mädchen von 23. Das war Berlin-Wilmersdorf, Nikolsburger Platz, ich habe von keiner einzigen mehr je gehört! In einem Schulaufsatz in der Obertertia mit dem Thema »Lebenswünsche« schrieb ich: Ich wünsche mir, immer das tun zu können, was mir gerade einfällt. Wir haben in Französisch die Fabel von La Fontaine »La Cigale et la Fourmie« gelesen. Ich bin für die Grille, trotzdem.
    Ich weiß nur, unser Geschichtslehrer – Herr Gehrig, ein Erz-Nazi schon damals –, der hat von den dreckigen Polen etwas erzählt, von diesen Untermenschen, und meine Mutter ist in Polen geboren.
    Ich bin nach Hause gekommen und habe sie angebrüllt: »Du dreckige Schlampe, aus diesem Land kommst du her« – meine Mutter ist in Warschau geboren, das war die Schule.
    Nie werde ich die Nacht im Schlafwagen von Zürich nach Genua vergessen. Der dunkelblaue Waggon Lits mit dem livrierten Herrn auf dem Bahnsteig. Er legt die Hand an sein Käppi, beugt sich zu mir hinab, um mich elegant die Stufen hochzuheben. Mai 1955, ich bin vier Jahre, wir reisen nach Israel – mein Teddy darf mit. Ich schlafe oben – in der Erinnerung ist es die einzige Nacht überhaupt, in der mich Ilses Nähe ergriffen hat –, wir sind auf dem Weg in ein großes Abenteuer, das Ilse nicht allein bestehen kann, und ich bin der kleine Mann mit auf dem Weg. So stolz wird sie nie wieder auf mich sein. In Genua schiffen wir uns auf der Pace ein. Marseille, Piräus, Rhodos, Haifa. Auf der Fahrt durch den Isthmus von Korinth darf ich auf der Kapitänsbrücke stehen. Die Besatzung dreht sich stündlich nach der schönen Signora mit dem blonden Bambino um. Fotos von der Akropolis, Gabriel im weißen Hemd mit Blazer – zwischen den Karyatiden.

    In Tel Aviv baut »Chefingenieur« Onkel Hans kleine Elektromotoren für mich und Windmühlen, mit denen wir nachts Glühbirnchen zum Flackern bringen. Unter dem Balkon des schneeweißen Hauses an der HaYarkon Street 144 beginnt der Strand, das Jam , wie Tante »Putz« und die vielen Jeckes das Meer nennen. An einem Samstag hat der Sohn des Bürgermeisters Bar-Mizwa. Onkel Hans nimmt mich in einen Werkzeugladen mit, wo wir eine Zange zum Geschenk aussuchen. Israel acht Jahre nach der Staatsgründung – die Menschen kennen einander und pflegen Anstand.
    »Putz«, die eigentlich Hulda heißt, nennt mich andauernd »mein Muschele«, greift mir in die Locken, und jeden Tag muss ich einen langen Mittagsschlaf machen. Nichts von alledem mag ich. Die kleine Wohnung ist voll schwerer, dunkler Möbel.Im engen Flur stehen Bücherregale. Eine träge Hitze legt sich ins Halbdunkel, schal und stickig. Zum ersten Mal überkommt mich der Geruch von »altem Mensch«, besonders wenn »Putz« an mir rummuschelt. Anders als bei Ilse stehen hier auf den Kredenzen und Büfetts Fotorahmen mit Menschen, die es im Leben von Hans, Ilse und »Putz« einmal gegeben haben muss – in Berlin, in Heringsdorf, in Karlsbad, in Messingwerk.
    Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Großväter und deren Frauen, Cousinen, Tanten, Familienfeste, Häuser, Reisen. Auch die Abende bei offenem Fenster sind nicht wie bei uns zu Hause. Nebenan wird leise gesprochen, ich höre Ilse nicht lachen. Die »Großen« sprechen bis tief in die Nacht, tuscheln so zart, als ob sie sich auch vor den Toten hüten müssten. Manchmal kommt Besuch. Dann darf ich noch aufbleiben, werde bestaunt, von mir fremden Menschen abgeküsst und muss mich ihnen von allen Seiten zeigen. Warum, wen suchen sie, soll ich besser jemand anders sein? – Wer? Das frage ich mich bis heute. Namen werden in meiner Gegenwart keine genannt, auch nicht die von den vielen Menschen auf der Kredenz und in den Alben. Wo sind sie geblieben?
    Nach einer Woche werde ich Hulda ganz und gar ausgeliefert. Ilse reist mit ihrem Lieblingscousin Fritz zu den Beduinenstämmen in die Wüste Negev. Sie bringt sich Schmuck und mir eine Schildkröte mit, die ich im Flugzeug in einer Schuhschachtel voller Salat auf meinen Knien nach

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