Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Zürich bringe, wo sie viele Jahre lang mit einem kleinen Loch im Panzer, durch das eine lange Schnur gebunden ist, in unserem Garten lebt. Mit der Zeit wird ihr verrunzelter Kopf Tante »Putz« immer ähnlicher, wird sie ein Teil meiner von mir gegründeten Familie, wird mein altes Muschele. Noch einmal – zehn Jahre später – bin ich als junger Zionist zu Besuch bei Hans und »Putz«. Nichts ist verändert, ihr Leben hat mit der Abreise aus Berlin im Jahr 1936 aufgehört, einen Grund zu finden.
FRAGMENTE VI
Meine Mutter war eine kluge Frau, sie gab mir eine sorgfältige Erziehung. Wenn Leute zu uns ins Haus kamen, musste ich aus dem Zimmer gehen, und wenn sie mir ein Buch gab, musste ich fast immer einige Seiten überschlagen.
Da kam der Frühling, es ging rings um mich etwas vor, woran ich keinen Anteil hatte, da betrachtete ich meine Glieder. Es schien mir manchmal, als wäre ich doppelt und verschmölze dann wieder in eins! Zu dieser Zeit kam ein junger Mensch ins Haus, er war hübsch und sprach oft tolles Zeug. Ich wusste nicht recht, was er damit meinte, aber ich musste lachen. Meine Mutter hieß ihn öfter kommen, und das war uns beiden recht.
Schließlich sahen wir nicht ab, warum wir nicht ebenso gut zwischen zwei Betttüchern nebeneinander liegen, als auf zwei Stühlen nebeneinander sitzen sollten. Ich fand dabei mehr Vergnügen als bei seiner Unterhaltung und konnte nicht verstehen, warum man mir das Größere verweigern und das Geringere gestatten sollte. Wir taten es heimlich, und das ging so fort. Aber ich wurde wie ein Meer, das alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte.
Alle Männer verschmolzen in meinem Leib. Meine Natur war einmal so, wer kann darüber hinaus. Endlich merkte er es.
Er kam eines Tages und küsste mich, als wollte er mich ersticken. Seine Arme pressten sich an meinen Hals. Ich war in unsäglicher Angst, da ließ er mich los und lachte und sagte, er hätte fast einen dummen Streich begangen. Ich sollte mein Kleid nur behalten und es tragen. Es würde sich schon von selbst abnutzen, er wolle mir den Spaß daran nicht vor der Zeit verderben.
Dann ging er, und ich wusste wieder nicht, was er gemeint hatte.
Eines Abends saß ich am Fenster. Ich bin sehr empfindsam und hänge mit allem um mich herum nur durch meine Empfindung zusammen. Ich versank in den Wellen der Abendröte. Da kam ein Haufe die Straße herab. Die Kinder liefen voran. Die Weiber sahen aus den Fenstern. Sie trugen ihn in einem Korb vorbei. Der Mond schien auf seine bleiche Stirn, seine Locken waren feucht. Er hatte sich ersäuft. Ich musste weinen, das war der einzige Bruch in meinem Leben.
Einen wichtigen Besucher in der Dolderstrasse 111 gibt es noch. Er kommt nicht vom Theater und nicht aus Berlin. Er heißt Fred Heim, ist Bürger von Dättwil im Kanton Aargau und wurde am 19.
August 1943 in Zürich mit Ilse Winter getraut. Alfred Heim ist 1896 in Müllheim im Königreich Baden als zweites Kind der traditionellen, dem ländlichen Judentum entstammenden Eheleute Mayer Heim und Mina Model zur Welt gekommen. Ihm folgen noch zwei Brüder und drei Schwestern.
Im Oktober 1899 zieht die Familie in die Schweiz, wo Mayer Heim im Städtchen Baden bei Zürich einen Laden mit Übergwändli (Arbeitsjoppen) für die Büezer (Arbeiter, Fabrikarbeiter) der Maschinenfabrik Brown-Boveri eröffnet. Eine karge Quelle, um sieben Kinder groß werden zu lassen. Die vier Söhne wollen raus aus den kleinen Verhältnissen. Sie machen kaufmännische Lehren in Zürich, Winterthur und Basel und sind tüchtig, denn bald verdienen sie »richtig Geld« im Tuchhandel. 1920 kaufen sie sich in Mulhouse im Elsass ein Textilunternehmen und begründen damit ihre Hemdenfabrik Produits textiles. Zwei Jahre darauf beschäftigen sie schon fünfhundert Näherinnen. Der älteste, Henri, ist Fabrikdirektor, der jüngste, Louis, eröffnet die Repräsentanz der hochtrabenden Marke Au cachet d’or in der Faubourg Saint-Honoré in Paris. Die Heim- frères , wie sie in Mulhouse bald genannt werden, machen keine halben Sachen.
Alfred ist für das Reisegeschäft zuständig. Das macht er gern, denn er liebt schnittige Bugattis und schnelle Delahayes und steigt – selten allein – auf Firmenkosten in luxuriösen Hotels ab. Monsieur Alfred ist ein homme à femmes , durch und durch. Er bereist die Kolonien, hat beste Kunden in Casablanca und Algier und verbringt die Julimonate an der Côte d’Azur und die Silvesternächte mit Stil in
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