Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
ergebener
Artur Sommer
Berlin, den 26.
Februar 1942
Liebste Ille,
ich bin in größter Sorge und weiß nun absolut nicht, was los ist. Neuerdings sind auch Inlandsreisen sehr erschwert, nur für notwendige Zwecke, doch nach Nachweis der Dringlichkeit, mit Kontrollen, also für Miezes Reise zur Hochzeit womöglich gar nicht mehr zulässig, ach, man kann verzweifeln und verrückt werden! Dr.
Sommer wird in diesen Tagen von seiner Reise zurück sein, vielleicht hat er Edgar telefonisch gesprochen und bringt mir Grüße. Was soll bloß werden! Wenn diese Karte bei Dir ist, ist es schon März, dessen Anfang ich so fürchte, weil ich noch immer krank bin ohne Aussicht; im Gegenteil, ich schlafe keine Nacht vor Angst und Sorge, es dauert mir schon viel zu lange, um von Erfolg zu sein.
Was soll ich bloß machen, ich sterbe langsam ab. Und Du Arme, sollten alle Deine Opfer etwa vergeblich gewesen sein? Ach, ich kann nichts mehr denken, wenn ich bloß erst wieder Post hätte, die mich beruhigt.
Mit 1000 sehnsuchtsvollsten Küssen,
Deine Mutti
Anfang März reist Edgar Salin über die französische Grenze nach Chambéry in Savoyen. Er unternimmt mehrfach Anstrengungen, zusammen mit seiner Schwester Lise die Eltern bei Genf über die Schweizer Grenze zu bringen. Diesmal bleibt er eine Woche weg. Während seiner Abwesenheit, am 9.
März, bestellt der amtierende Dekan der Fakultät, der Germanist Walter Muschg, Ilse zu einem Vorexamen ein, das die Zulassung zum Doktorat klären soll. Am nächsten Morgen schreibt Muschg an Ilses Doktorvater Salin:
Sehr geehrter Herr Kollege,
ich prüfte Frl. Winter etwa eine Stunde lang über lauter elementare Fragen, und das Ergebnis war katastrophal. Es ist mir also leider ganz unmöglich, Frl. Winter die Zulassung zum Examen zu bewilligen.
Inzwischen habe ich auch die Dissertation von Frl. Winter teilweise gelesen, und ich glaube dabei eine Erklärung für den großen Unterschied gefunden zu haben, der zwischen Ihrer Bewertung und meinem Urteil besteht. Ich verstehe nichts von Nationalökonomie, bin aber zuständig für Stilfragen. Im Hinblick auf die sprachliche Form sehe ich mich leider zu der Feststellung genötigt, dass die Dissertation in der vorliegenden Form unmöglich von Frl. Winter geschrieben sein kann. Die straffe, logische Diktion der Arbeit steht in unvereinbarem Gegensatz zu dem fahrigen, unkonzentrierten, sinnlich impressionablen Wesen der angeblichen Verfasserin.
Als Dekan muss ich mich darüber hinaus fragen, ob das Promotionsgesuch Frl. Winters durch einfache Abweisung erledigt werden kann, oder ob es nicht angezeigt ist, gegen die Kandidatin eine Untersuchung einzuleiten.
Es ist mir klar, dass Ihnen mein Standpunkt zunächst befremdlich erscheinen muss. Die Umstände sind aber für mich so zwingend, dass ich mich der Pflicht nicht entziehen kann, Ihnen meine Ansicht in vollem Umfang zur Kenntnis zu bringen, damit wir gemeinsam über die angemessene Erledigung des Falles beraten können.
Mit kollegialem Gruß,
Ihr ergebener Dekan
Für Walter Muschg, den die wie immer gut informierte Marie in einem ihrer früheren Briefe als »gegnerischen Professor und Schikaneur« abkanzelt, ist der »Fall Winter« vermeintlich leichte Beute. Für ihn geht es nur noch darum, die Form der »Abwicklung« zu klären. Für Ilse kann das gravierende Folgen haben, im schlimmsten Fall die Ausweisung aus der Schweiz. Nach dem Reinfall bei Muschg ist sie sehr beunruhigt und ruft Salin in Frankreich an. Sie weiß, dass Walter Muschg nicht locker lassen wird. Endlich hat er einen Anlass, um dem arroganten Salin eins auszuwischen.
Ilse ist mit den Nerven fertig. Hier ein Skandal, dort die drohende Deportation der Mutter, Hiroshi in der Klinik, und zu allem Übel ist ihr unwohl. Bis zu Salins Rückkehr sind es noch vier Tage. Ilse will auf andere Gedanken kommen und trifft sich mit ihrer Berliner Freundin Maria Netter. Am nächsten Tag lädt sie den Lektor des Verlags Benno Schwabe und den kritischen Theologen Konrad Farner samt Frau zum Essen ein. Farner istmit den Ränken der Universität vertraut, hat bei Karl Barth und Edgar Salin promoviert. Vielleicht kann er Ilses blanke Nerven ein wenig beruhigen. Mittags geht sie in die Hardstrasse 110 und kocht für die Kinder, solange der Vater unterwegs ist.
Am 15.
März kehrt Salin unverrichteter Dinge nach Basel zurück, noch in der Nacht schreibt er an Muschg. Edgar Salin gibt dem »verehrten Dekan« kontra. Es geht um
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