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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Gesellschaft fortgefahren, zufällig zusammen mit ihrem Anwalt. Sie lässt noch herzlich grüßen. Ich hätte schon früher geschrieben, bin aber durch Arbeitsüberlastung nicht früher dazu gekommen. Hoffe, es geht Dir gut. Mutti zeitgemäß.

    Dir alles Gute und viele Grüße von
Deiner Erna Löwy
    Anfang Juli ist Ilse auf einer mehrtägigen Velotour rund um den Vierwaldstättersee. In Vitznau erfährt sie am 6.

Juli möglicherweise durch Artur Sommer von Maries Verschleppung.
    Ihr Eintrag im Notizbüchlein: »Nachricht von Muttis Deportation«. Vier knappe Worte. Danach lese ich bei ihr nie mehr von »Mutti«.
    Ilse will keine Leere aufkommen lassen, hektisch geht es nun in ihrem Notizkalender zu. Ausflüge, Wanderungen in die Berge, Reisen nach Zürich und Genf, Herbsttage im Tessin. Die Freundschaft mit Renata wächst, gemeinsam feiern sie Ilses dreißigsten Geburtstag am 10.

September im Fälkli. Doch die großen Pläne realisieren sich nicht: Ilses Zulassung zum Examen hängt in den Sternen, diesmal lässt der Doktorvater Salin nacharbeiten, zuverlässig wie immer bescheinigt er der Fremdenpolizei die Verzögerung. Auch die Heirat kommt im Jahr 1942 nicht zustande. Fred findet immer neue Ausflüchte. Ilse bleibt also weiterhin Doktor in spe und ledig.
    Ihr Briefkasten in der Augustinergasse 15 bleibt lange Zeit leer. Keine Nachrichten über Maries Schicksal trotz Suchkarten an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes und Anfragen an einige der infrage kommenden »Judenräte«. Ab und zu ein verzweifelter Brief von Onkel Willi, der mit einem schweren Magenleiden in Lyon in einem Krankensaal interniert ist und dringend Medikamente und Päckli braucht.
    An einem frühen Morgen Ende Juli findet Edgar Salin einen großformatigen verschlossenen Umschlag vor seiner Haustür:

    »Eingeschlossen war ein Bericht zur Lage der Juden in Polen: Im Osten seien spezielle Lager eingerichtet worden, in denen die europäischen Juden sowie russische Kriegsgefangene durch Gas umgebracht würden. Der Absender bittet Salin, unverzüglich die Engländer und Amerikaner zu informieren.«
    Gaston Haas,
»Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte …«
    Salin informiert seinen ehemaligen Schüler Chaim Pozner, der als Chef der Jewish Agency in Genf Kontakte zum britischen Geheimdienst unterhält, und leitet die Dokumente auch über amerikanische Freunde an die US-Botschaft in Bern weiter. Reaktionen sind nicht dokumentiert, kaum umstritten jedoch ist, dass ihm der Umschlag von Artur Sommer vor die Haustür gelegt wurde. Salin wird Ilse kaum davon berichtet haben, zu brisant ist die vertrauliche Information.
    Für mich ist heute kaum vorstellbar, wie wenig Ilse und auch Willi damals trotz des Verschwindens von Eltern, Geschwistern, Freunden, der Abreise ganzer Familien ohne Adresse und Lebenszeichen wissen. Was haben sie sich gedacht, wohin haben sie ihre Fragen, ihre Ahnungen gelegt, was haben sie sich erzählt in Basel, in Lyon, in London oder Tel Aviv? Waren sie wirklich so ahnungslos wie Willi in seinem Brief vom 14.

August 1942: »Aber was ist aus Marie geworden? Hast Du inzwischen direkte Nachricht? Was bedeutet wohl die Reise nach Riga, da es doch sonst mehr nach Osten geht?« Und später bietet er sich sogar als Austausch für seine Schwester an, »wenn man doch nur wüsste, wo sie ist«. Eigentlich rührend.
    Am 3.

November teilt das Rektorat der Universität mit, dass sich Fräulein Ilse Winter zu den Examen der Historisch-Philosophischen Fakultät anmelden darf. Fred ist in Uniform, Ilse schickt ihm ihre berühmten Päckli . So endet das Jahr, wie es begonnen hat – in den Bergen. Am 22.

Dezember geht Ilse in Basel zum Coiffeur, am Tag darauf trifft sie sich mit Fred am Bahnsteig in Zürich auf der Fahrt nach St.

Moritz. Sie fährt Ski und macht lange Spaziergänge nach Champfèr und Maloja. An Silvester setzt es, beinahe schon aus Gewohnheit, einen heftigen Krach mit Fred, danach Kulm-Bar , Chesa Veglia , Palace-Bar bis fünf Uhr – wir sind im Jahr 1943 angelangt.

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    »Erzähl von dir. Lass es doch mal hochkommen. Gehört doch zu dir.«
    ILSE 1994 IM ALTER VON 82 JAHREN
    Mit dem neuen Jahr sollte Besinnung und mehr Ruhe in Ilses Leben kommen, die zurückliegenden Monate sind im Alb dahin, oft zwischen Wahn und Wahrheit zerrissen, Wochen mit Hoffen und Bangen. Noch immer – nach sechs Monaten – hat Ilse keine Spur von Marie und weiß nun auch, dass sie keine mehr finden

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